Teil I
»Zinnoberrot«
Kapitel 1
Als die Hebamme kam, war auch der Tod bei uns. Am liebsten hätte er mich gefressen, aber das warme Blut in mir ließ ihn mich nicht einmal berühren. Stattdessen warf er ein Auge auf meine Mutter. Etwas in ihr war gerissen, als sie mich gebar. Sie hätte nicht geschmeckt. Wir schmecken ihm alle nicht, wenn wir alt werden oder kraftlos sind. Aber meistens ist ihm der Geschmack egal, er nimmt die Menschen trotzdem mit, wenn ihm danach ist.
Am Tag meiner Geburt war ihm nicht danach.
Es gab wenig, dass mir von meinen ersten Monaten erzählt wurde. Eigentlich nur, dass ich ein Mädchen war, welches schnell lernte, wie wenig Sinn es hatte, lange zu schreien. Gewiss hätte ich mich anders entwickelt, wenn auf mein Brüllen immer jemand an mein Bett gekommen wäre, aber Mutter ging es nicht gut zu dieser Zeit. Man sagte mir später, sie sei oft nicht Herr ihrer Sinne gewesen und, dass sie der Jähzorn packte.
Ich war elf Jahre alt, als ich erstmals verstand, was die Leute damit meinten.
*
Es hatte sich die Nacht über eingeregnet. In der kleinen Stube bildete sich eine nasse Stelle an der Decke, welche sich ausbreitete, je länger es schüttete. An ihr löste sich der Putz. Man sah ihn nie herunter rieseln. Ich fand nur in regelmäßigen Abständen sandige Krümel auf dem Bett. Als die Stückchen größer wurden, verließ der stockende Geruch die Wohnung immer seltener. Damit gab es noch etwas, dass mich anekelte. Als ob der mit Efeu zugewucherte Giebel nicht schon reichte. Die Spinnen, die er beherbergte, ließen es mir kalt über den Rücken laufen. Sie krochen durch geöffnete Fenster in die Ecken der Räume, fraßen sich dort fett und warteten. Sobald ich eine in der kleinen Stube entdeckte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Was, wenn sie in der Nacht auf mich drauf oder mir in Nase kroch? Ich hatte gesehen, wie schnell sie laufen konnten. Nicht gerade die Weberknechte, aber die Kreuzspinnen und die kleinen Schwarzen.
Wenn ich - was selten genug vorkam - all meinen Mut zusammennahm, um eine von denen zu erschlagen, und sie unglücklicherweise nicht traf, dann krabbelte sie mit solcher Geschwindigkeit in die nächste Ritze, dass mir vor Schreck beinahe das Herz stehenblieb. Es setzte dann jegliche Vernunft aus. Ich musste schreiend aus dem Raum rennen, die Tür verrammeln und mit den Händen die Schultern und meine dünnen Arme abklopfen, um sie loszuwerden, falls sie doch auf mich gesprungen war. Die Stube betrat ich erst wieder, wenn die Spinne erschlagen und alles nach weiteren Tieren abgesucht war. Mutter tat mir selten diesen Gefallen, stattdessen wurde sie unwirsch und laut. »Mir hat früher auch keiner den Hintern gepudert«, fuhr sie mich bisweilen an, machte auf dem Absatz kehrt und gab mir zu verstehen, dass sie andere Sorgen hätte. Sie konnte sich nicht darum kümmern, wo ich schlief.
Das hielt ich aus. Notfalls verbrachte ich die Nacht auch auf dem Küchenboden - Hauptsache, ich wäre diesen ekelhaften Kreaturen nicht ausgeliefert. Am liebsten hätte ich den ganzen Sommer über nicht ein Fenster geöffnet, aber bei der Hitze war es nicht auszuhalten und Mutter fürchtete sich nicht vor Spinnentieren. Ebenso wenig wie vor nassen Flecken an der Zimmerdecke.
An jenem Morgen bin ich von einer rauen Stimme wach geworden. Der Kesselschmied hatte in aller Frühe so lange vor dem Haus gerufen, bis Mutter ihm öffnete. Er erzählte etwas von einem Sturm, der das Dorf bald erreichte, und half ihr, die verzogenen Fensterläden zu verriegeln, deren rostige Scharniere seit dem Unwetter im November nicht mehr bewegt worden waren. Dann hetzte er weiter, zum nächsten Haus und hatte seine Not, über die immer größer werdenden Pfützen hinweg auf trockene Stellen des Weges zu springen.
Als ich die Treppe herunterstieg, wechselte Mutter ihr Kleid. Fünf Minuten vor der Tür hatten gereicht, es völlig zu durchnässen. Ich machte einen Fensterladen aus, an dem zwei Lamellen fehlten, und erschrak, wie tief dahinter der Himmel hing. Wie eine Wand stand das Unwetter über dem Wald und sammelte seine Kräfte. Doch noch war es nicht bei uns. Wir spürten erst den Wind, einen Vorboten - einen starken zwar, aber bislang keinen stürmischen. Er zog an den Ästen der Bäume und versuchte sie in eine Richtung zu biegen. Das gelang ihm nur bei den Trauerweiden. Sie standen schräg hinter dem Haus an einer Uferseite des Flusses, der Nachbars Mühlrad ununterbrochen antrieb. Nach jedem Winter spülte die Strömung die Wurzeln mehr und mehr aus, bis die Hälfte von ihnen frei im Wasser stakte. Mit jedem Sommer wurden die Ruten schwerer, tauchten tiefer in den Fluss und zogen die Weiden noch bedrohlicher zur Wasserseite. Ich war mir sicher, dass es eines Tages einen gewaltigen Windstoß geben würde, dem sie nicht mehr standhalten könnten.
Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat. Immer, wenn es um den Wind ging, kamen mir Sätze wie dieser in den Sinn. Sie waren Teil einer Geschichte. Als ich klein war, bildete ich mir ein, dass der Wind sie mir selbst erzählt hatte. Mit der Zeit konnte ich jedoch immer weniger daran glauben, dass es tatsächlich so gewesen sein soll. Merkwürdig war nur, dass mir auch Jahre später nicht ein Wort dieser Geschichte verloren ging
Ich fege durch ein Windrad, dessen Stiel in einem Beet steckt, verfange mich darin, reiße es mit, um in einen Laubhaufen einzutauchen und ihn in sämtliche Richtungen zu zerstreuen. Ich bin etwas, dass die Welt dem Stillstand entgegenzusetzen hat.
»Mit dem Stillstand folgt der Tod«, hatten alle gesagt, die wie ich waren, als ich jung war. Bin ich noch immer jung?
Als ich das Laub abschüttle, fahre ich einer Frau durch die Haare, umschmeichele ihren Hals. Sie ist weich, zart oder etwas dazwischen.
Angetrieben von Unruhe, die mein Wesen zu sein scheint, zieht es mich an den Stadtrand. Dort reiße ich Blumentöpfe von Fensterbrettern und stoße einen alten Mann um, aber das befriedigt meinen Zerstörungsdrang nur zu einem Bruchteil.
Plötzlich bewegen sich die Baumwipfel hinter der letzten Hausreihe. Ich bin nicht mehr allein.
Der, den ich entdeckt hatte, lässt mich aufbrausen und schlagartig über das Vielfache meiner Kraft verfügen. Diese Reaktion gibt es immer, wenn ich mit meinesgleichen aufeinandertreffe. Wir schlagen zusammen, um uns in unserer Wut der Stadt zu bemächtigen, und sie die Nacht über, mit Sturm und Unwetter zu füllen. Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat.
Ich ziehe weiter, ohne zu wissen, mit wem ich gerungen habe. Das weiß ich nie, denn wir sehen einander nicht - nur das, was wir bewegen oder zerstören. Wir sehen ja nicht einmal uns selbst. Vielleicht gibt es nur ganz wenige von uns und ich gerate immer mit demselben aneinander.
Dann erblicke ich sie erstmals, schaue ihr fasziniert zu. Wage mich nicht zu ihr und wünsche mich doch in ihre Nähe.
Sie ist ganz anders. Es muss samtig sein, sie zu berühren. Als sie auf mich zukommt, greift sie behutsamer in die Blätter, als ich es je könnte, und legt ein fortwährendes Rascheln über sämtliche Geräusche .
Wir sprechen nicht. Alles, was wir tun, tun wir leise. Wir werden langsamer, brauchen die Geschwindigkeit mit einem Mal nicht mehr. Ich tue das, was ich für Umarmen halte, und plötzlich stehen wir still.
Und lösen uns auf.
*
Das Ungetüm vor dem Haus war beängstigend. Es hatte sich zu einem Vielfachen des vorgeschickten Windes aufgetürmt und dessen Tosen in ein tiefes Grollen umschlagen lassen. Sobald es in der Richtung drehte, peitschte es den Regen gegen das Holz und ich sah nichts mehr durch meinen Spalt. Dann aber hörte ich Mutter, die etwas vor sich hin murmelte - wohl einen Psalm des Pastors. Immer dieselben Sätze, immer wieder und wieder. Es klang unheimlich. Ich wollte sie umarmen, das hätte mich beruhigt, aber es