Das Duell. Anton Tschechow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anton Tschechow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753126562
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Priesterseminar verlassen und war in dieses Städtchen kommandiert worden zur Vertretung des alten Diakons, der zu einer Badekur beurlaubt war. Sie zahlten für Mittag- und Abendessen monatlich zwölf Rubel, und Samoilenko hatte ihnen das Ehrenwort abgenommen, pünktlich um zwei Uhr zu Mittag zu erscheinen.

      Zuerst kam gewöhnlich Herr von Koren. Er setzte sich schweigend ins Wohnzimmer, nahm das Album vom Tisch und begann die verblaßten Photographien unbekannter Herren in breiten Hosen und Zylindern und Damen in Krinolinen und Hauben zu betrachten. Selbst Samoilenko wußte nur noch von wenigen die Namen, sagte aber von jedem mit einem Seufzer: »Es war ein reizender, hochbegabter Mensch.« Wenn das Album durchblättert war, holte Herr von Koren sich eine Pistole von der Etagere, drückte das linke Auge zu und zielte lange auf ein Porträt des Fürsten Woronzow, oder er stellte sich vor den Spiegel und betrachtete sein dunkles Gesicht, seine hohe Stirn und seine schwarzen Haare, die lockig waren wie bei einem Neger, dann sein Hemd aus dunklem, großgeblumtem Kattun, das an einen persischen Teppich erinnerte, und den breiten Ledergurt, der die Stelle der Weste vertrat. Diese Musterung der eigenen Person machte ihm fast noch mehr Vergnügen als das Durchblättern des Albums und die Untersuchung der Pistole mit dem kostbaren Beschlag. Er war sehr zufrieden mit seinem Gesicht, dem hübsch zugestutzten Bärtchen und den breiten Schultern, die einen augenscheinlichen Beweis seiner guten Gesundheit und kräftigen Konstitution bildeten. Er war auch zufrieden mit seiner gigerlhaften Kleidung, von der Krawatte, die so schön mit der Farbe des Hemdes harmonierte, bis hinab zu den gelben Schuhen.

      Während er das Album besah und vor dem Spiegel stand, mühte sich Samoilenko in der Küche und nebenan im Hausflur. Ohne Rock und Weste, mit bloßer Brust, erregt und schwitzend, machte er Salat an oder bereitete irgendeine Sauce oder legte Fleisch, Gurken oder Zwiebeln für die kalte Suppe zurecht. Dabei sah er seinen Burschen, der helfen mußte, wütig an und gestikulierte bald mit dem Löffel, bald mit dem Messer auf ihn ein.

      »Bring' den Essig her,« befahl er, »ach was, Unsinn, nicht Essig, Provenceröl,« schrie er und stampfte mit dem Fuß, »wohin läufst du denn, Rindvieh?«

      »Das Öl holen, Exzellenz,« sagte der Bursche erschrocken mit seiner blechernen Tenorstimme.

      »Na, vorwärts! Im Schrank steht es. Und sag' Darja, sie soll, wenn sie die Gurken bringt, auch Dill mitbringen. Dill! Deck' den Rahm zu, du Schlafmütze, sonst fallen die Fliegen hinein!«

      Und von seinem Geschrei schien das Haus zu erdröhnen. Etwa zehn Minuten vor zwei erschien der Diakon, ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, hager, langhaarig, noch ohne Vollbart, auch der Schnurrbart war noch kaum zu merken. Im Wohnzimmer bekreuzigte er sich zuerst vor dem Heiligenbild, dann lächelte er und reichte Herrn von Koren die Hand.

      »'n Morgen,« sagte der Zoolog kühl, »wo kommen Sie her?«

      »Ich hab' im Hafen Kaulbarse geangelt.«

      »Dacht' ich mir's doch. Diakon, Diakon, Sie werden sich auch nie mit einer vernünftigen Arbeit beschäftigen.«

      »Warum denn? Die Arbeit läuft mir nicht fort,« sagte der Diakon, lächelte und versenkte die Hände in die ungeheuren Taschen seines weißen Priesterrockes.

      »Ja, Sie zu prügeln, wie einen kleinen Jungen, hat keiner das Recht,« seufzte der Zoolog.

      Fünfzehn bis zwanzig Minuten vergingen, das Essen kam nicht, und man hörte noch immer, wie der Bursche mit seinen schweren Stiefeln trampelnd zwischen Küche und Flur hin und her lief, und wie Samoilenko schrie:

      »Stell' es doch auf den Tisch! Wohin läufst du denn! Wisch' es zuerst ab!«

      Der Diakon und Herr von Koren waren hungrig und begannen zu applaudieren und mit den Absätzen zu stampfen, um nach Art der Galeriebesucher im Theater ihrer Ungeduld Ausdruck zu geben. Endlich öffnete sich die Tür, und der abgehetzte Bursche bat zu Tisch. Im Esszimmer trafen sie Samoilenko. Er war feuerrot im Gesicht, ganz aufgelöst von der Hitze in der Küche und wütend, betrachtete sie ärgerlich und gab keine Antwort auf ihre Fragen. Mit dem Ausdruck von Schrecken im Gesicht hob er den Deckel von der Terrine und schöpfte jedem seinen Teller voll, und erst, als er sich überzeugt hatte, daß sie mit Appetit aßen, und daß es ihnen schmeckte, seufzte er erleichtert auf und setzte sich in seinen bequemen Lehnstuhl. Sein Gesicht wurde heiter und freundlich, er goss sich ein Gläschen Schnaps ein und sagte:

      »Aufs Wohl der jungen Generation!«

      Samoilenko hatte nach dem Gespräch mit Lajewskij die ganze Zeit vom Morgen bis zum Mittag ungeachtet seiner vorzüglichen Laune in der Tiefe seines Herzens ein drückendes Gefühl verspürt. Lajewskij tat ihm leid, und er wollte ihm helfen. Nachdem er vor der Suppe sein Schnäpschen getrunken hatte, seufzte er und sagte:

      »Heute hab ich Wanja Lajewskij gesehen. Der arme Kerl hat auch ein schweres Leben. Die materielle Seite seiner Existenz ist trostlos, aber das Schlimmste ist seine seelische Gedrücktheit. Schade um den Menschen.«

      »Um den ist es doch wahrhaftig nicht schade,« sagte Herr von Koren, »wenn dieser angenehme Herr ins Wasser fiele, dann würde ich ihn mit dem Spazierstock tiefer hineinstoßen: Versauf' du nur, mein Teurer.«

      »Das ist nicht wahr, das würdest du nicht tun.«

      »Warum glaubst du das?« Der Zoolog zuckte mit den Schultern, »ich bin ebenso fähig zu einem guten Werk, wie du.«

      »Ist das ein gutes Werk, einen Menschen ertränken?« lachte der Diakon.

      »Lajewskij zu ersäufen, ja.«

      »In der Suppe fehlt, glaub' ich, etwas,« sagte Samoilenko. Er wollte auf ein anderes Thema kommen.

      »Lajewskij ist unbedingt schädlich und für die Gesellschaft genau so gefährlich wie ein Cholerabazillus,« fuhr Herr von Koren fort, »ihn zu ersäufen ist eine verdienstvolle Tat.«

      »Es macht dir wirklich keine Ehre, so von deinem Nächsten zu denken.«

      »Rede keinen Unsinn, Doktor. Einen Bazillus zu hassen und zu verachten ist dumm, aber jeden ersten Besten ohne Unterschied für seinen Nächsten zu halten, – dafür danke ich schön! Das heißt, überhaupt nicht urteilen, auf jedes gerechte Verhalten den Menschen gegenüber verzichten, sich sozusagen die Hände waschen. Ich halte deinen Lajewskij für einen Schurken, das verheimliche ich nicht und behandle ihn nach meinem Gewissen wie einen Schurken. Du aber hältst ihn für deinen Nächsten, also küsse ihn von mir aus! Du hältst ihn für deinen Nächsten, er bedeutet dir also dasselbe wie ich, wie der Diakon, – also gar nichts. Du bist gegen alle in gleichem Maße gleichgültig.«

      »Einen Menschen einen Schurken nennen!« brummte Samoilenko, den Mund verziehend. »Das ist so häßlich ... ich kann dir gar nicht sagen, wie häßlich es ist!«

      »Menschen beurteilt man nach ihren Taten,« sagte Herr von Koren, »nun sehen Sie selbst, Diakon – die Tätigkeit dieses Herrn Lajewskij liegt wie eine lange chinesische Schriftrolle vor unseren Augen, und wir können sie vom Anfang bis zum Ende lesen. Was hat er die zwei Jahre vollbracht, die er hier ist? Man kann's an den Fingern abzählen. Erstens hat er den Leuten das Whistspielen beigebracht. Vor zwei Jahren war dies Spiel hier unbekannt. Jetzt spielt jeder vom frühen Morgen bis in die späte Nacht Whist, sogar die Frauen und die halbwüchsigen Bengel. Zweitens hat er den Leuten das Biersaufen gelehrt, was früher auch nicht Mode war. Außerdem sind sie ihm auch dafür zu Dank verpflichtet, daß er sie mit den verschiedenen Schnapssorten bekannt gemacht hat. Jetzt kann ja jeder mit verbundenen Augen den Koscheljowschen Branntwein von dem Smirnowschen unterscheiden. Drittens hat man hier früher mit anderer Leute Frauen heimlich gelebt, aus denselben Beweggründen, aus denen die Diebe heimlich und nicht öffentlich stehlen. Den Ehebruch hielt man für etwas, was man sich schämen mußte öffentlich auszustellen. Lajewskij erschien als Pionier in dieser Hinsicht. Er lebt öffentlich mit eines anderen Mannes Frau zusammen. Viertens –«

      Herr von Koren aß schnell seine Suppe auf und gab den Teller dem Burschen.

      »Ich war mir schon im ersten Monat unserer Bekanntschaft ganz klar über Lajewskij,« fuhr er fort und wandte sich an den Diakon, »wir sind zu gleicher Zeit hergekommen. Menschen von seinem Schlag lieben die Freundschaft, Anschluß, Solidarität