"Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein", sagte sie, wohlwissend, dass ich das niemals zulassen würde. Zu dieser Stunde konnte keine Frau alleine auf die Straße. Nach einigem hin und her begleitete ich sie schließlich mit mürrischem Gesicht.
In der Subway saß ein junger, schwarzer Polizist, über dessen lange Beine jeder Passagier, der in den hinteren Teil des Wagens gelangen wollte, steigen musste. Am liebsten hätte ich eine Bemerkung gemacht. Aber er hatte einen großen, polierten Massivholzknüppel über seine Knie gelegt, den er liebevoll streichelte. Dr Retter im Falle eines Überfalls gab sich drohend, auch gegenüber den möglichen Opfern.
Der Museumsbau des Leichenschauhauses wirkte gespenstisch. Die Wände des Raumes, in den sie uns führten, zierten statt Gemälde blanke Metallplatten mit Griffen dran. Es brannte kaltes, fahles Licht. Die Platten waren die Stirnseiten von mannsgroßen Schubladen, in denen die Toten der letzten 24 Stunden lagen.
"Junge Frauen haben wir sechs!" sagte der Mann im grünen Kittel, "die normale Tagesquote! Im Jahresdurchschnitt!"
"Sie ist erst heute Abend im TV gezeigt worden!" sagte Judith.
"Die neu Eingelieferten sind auf der anderen Seite", sagte der Mann, als wenn er von War sprach. Mit einiger Anstrengung zog er einen der schweren Metallbehälter auf Schienen halb heraus.
"Sind Sie die Eltern?" fragte er und deckte vorsichtig, ohne die Antwort abzuwarten, das Kopfende auf. Wir waren auf den Anblick vorbereitet, aber wir brachten einfach einige Sekunden, eher wir etwas erkannten. Es war Dorothy. Auf dem vom Pathologen ausgefüllten Formular stand als Todesursache: Überdosis Heroin. Judith schluchzte.
"Nein, wir sind nicht die Eltern", sagte ich, "aber wir kennen ihren Namen. Sie heißt Dorothy Snyder.
"Die Tote muss von ihren nächsten Angehörigen identifiziert werden, wenn sie in der Stadt sind, das ist Vorschrift. Und zwar innerhalb eines Tages!"
"Was ist, wenn nicht?" fragte ich automatisch.
"Dann wird sie auf Hard Island von Sträflingen in einem Massengrab verscharrt. Die Stadt New York muss sparen. Einäschern käme teurer!"
Wir gaben ihm die Adresse.
Dann sahen wir uns noch die Gsichter der anderen fünf weiblichen Leichen an, aber unsere Tochter Jane war nicht darunter. Es war keine vollkommene Beruhigung. Wo war Jane? War sie noch in Europa? Waren die beiden Mädchen, gerade achtzehn Jahre alt, überhaupt in Europa gewesen? Judith bestürmte mich mit Fragen.
Wir geingen noch in der selben Nacht zum Polizeirevier und gaben eine Suchmeldung auf. Der Wachhabende versuchte uns zu trösten: "In New York gehen jede Nacht mehr Frauen als Autos verloren und tauchen am nächsten Morgen wieder auf. Die allermeisten unbeschädigt, was man von den Autos nicht behaupten kann!" Er grinste dabei zynisch und hielt auch nicht inne, als ich ihn strafend ansah. Unsensibel wie er war, kam für ihn nur Sex in Frage, wenn Frauen verschwanden. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber sein Grinsen war deutlich genug gewesen.
"Schon mal was von Rauschgift gehört?" fragte ich den Rothaarigen verbittert.
"Nein, Sir! Nur der ganze Asservatenschrank ist voll von dem Zeug", erwiderte er mit rauher Stimme und deutete mit dem Daumen hinter sich. "Die Kids pumpen sich den Stoff rein und kippen um, wenn sie zuviel erwischen. Die Dealer strecken die Ware normalerweise mit Strychnin oder Traubenzucker. Abr wenn sie nur den leisesten Verdacht haben, jemand würde sie verpfeifen, liefern sie auch schon mal was Pures. Und dann steht im Protokoll des Doktors Überdosis. Das ist der berühnte goldene Schuß, der vermutlich mehr unfreiwillig als bewusst gesetzt wird."
"KennenSie die?" fragte ich und zeigte ihm ein Passbild von Jane, das ich in meiner Brieftasche hatte. Es war nicht mehr ganz neu und die Wahrscheinlichkeit war ohnehin gering, dass er sie zufällig gesehen hatte. Trotzdem enttäuschte mich seine Antwort. "In New York City", meinte er treuherzig, "kann auch die Polizei niemanden finden, der nicht gefunden werden will oder soll! Es hängen rund 200.000 Menschen an der Nadel. Und dann die vielen Alkoholiker und Medikamentensüchtigen und jetzt auch noch die Crackies. Wer soll sich da noch zurecht finden?"
In dieser Nacht beschloss ich, Jane selbst zu suchen. Noch wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Es war zweifelsfrei ihre Schrift auf der Karte aus Salzburg und die Karte trug auch einen österreichischen Poststempel. Echt oder falsch? Keine Ahnung! Und Europa war weit!
2. Kapitel
„Ich habe nie etwas an Jane bemerkt“, sagte Judith, „keine engen oder weiten Pupillen, kein geklautes Geld, keine Vernachlässigung“.
Ich antwortete nicht. War es nicht immer so, dass Eltern oder Freunde zuletzt bemerkten, wenn sich irgendetwas veränderte? Raubt die fehlende Distanz nicht den Durchblick? Wie war das mit den Bäumen und dem Wald? Nein, Sprichwörter und Redensarten stimmten fast nie. Vielleicht hat Jane mit der ganzen Katastrophe überhaupt nichts zu tun, versuchte ich mich zu beruhigen und Ordnung in meine Gedanken zu bekommen. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ihr Leben wie ein Film vor meinen Augen ablief – das einzige Leben, meines eingeschlossen, dass ich buchstäblich von Anfang an kannte und hautnah erlebt hatte.
Ich sah Jane vor mir, als die Säuglingsschwester sie zum ersten Mal hinter einer Glasscheibe hochhielt. Ein rotes, verschrumpeltes Etwas mit Resten von Käseschmiere in den spärlichen Härchen auf dem vom engen Geburtskanal länglich verformten Kopf. Ich sah sie vor mir, als sie zum ersten Mal mit zahnlosem Mund lächelte und ihr rosa Gaumen wie zwei Schienen sichtbar wurde. Sah sie auch vor mir, als sie zum ersten Mal in Bauchlage den Kopf hob, zum ersten Mal saß, stand und lief.
Diese Ersterlebnisse sind es, die man nicht vergisst. Die sich einem tief eingraben in ein sonst noch so löchriges Gedächtnis. Wenn sie krank war – und sie war nie ernstlich krank – hatte ich auch tagsüber an meinem Schreibtisch an sie gedacht. Ich hatte jahrelang auf ihre tausend Fragen geantwortet, so gut es ging und mir dabei bewusst werdend, wie wenig wir Erwachsenen eigentlich wissen. Ich hatte ihr das Radfahren beigebracht und das Schwimmen, das Rollschuhlaufen und Schlagballwerfen. War mit ihr in Walt Disneys bunten Filmen gewesen und hatte sie laut mitlachen hören und auch schluchzen, wenn Bambi seine Mutter suchte. Wie Millionen Väter auf der Welt.
In den letzten Jahren waren wir nicht immer einer Meinung gewesen. Wie unwichtig das jetzt war! Sie wollte nicht studieren, sondern etwas Praktisches lernen. Goldschmiedin oder Grafikerin. „Es ist mein Leben!“ war ihr häufigster Spruch. Wie recht sie hatte. Es war ihr Leben. Aber irgendwie war es auch meins. Und ob sie aus ihrem Leben jetzt noch machen konnte, was sie wollte? Genau das war die Frage, die jetzt auf meiner Seele brannte.
„Was wirst du unternehmen?“ fragte Judith, als sie die Sicherheitskette unserer Wohnungstür von innen mit einer automatischen Bewegung vorlegte und danach noch zwei weitere Riegel herumdrehte, während ich etwas ratlos hinter ihr in der Diele stand.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich achselzuckend.
„Ich kenne dich, David! Du hast etwas vor! Wenn du deine Wangenmuskeln anspannst, hast du etwas vor“!
Ich schaute in den Dielenspiegel und fühlte mich durchschaut.
„Ich werde Jane finden“, sagte ich nach einer Pause.
„Natürlich!“ sagte sie und genauso gut hätte sie mich auch einen Idioten nennen können.
„In dieser Stadt mögen Tausende von Menschen jedes Jahr verloren gehen, spurlos und für immer. Aber nicht meine Tochter! Ich tue es nicht nur für sie, sondern auch für mich und für uns. Ich kann keine Ruhe geben, weil ich sonst keine Ruhe finde! Und wenn ich alle elf Millionen Einwohner persönlich überprüfen muss. Eines Tages werde ich sie finden. Wir werden uns in die Arme schließen und sie wird schweigen. Und ich werde ihr keine Vorwürfe machen.“
„Du wirst keine Zeit dazu haben“, sagte Judith praktisch, „tagsüber wird dein Chef dich nerven und abends wirst du die Beine ausstrecken wollen“.
„Ich werde meinen Job kündigen, aber vorher noch einen Kredit aufnehmen,