Joachim Kath
Herzkalt
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
Es war an einem Tag wie jeder andere, als alles begann. In den seriösen Zeitungen stand auf der ersten Seite, was in den Boulevardblättern auf der letzten stand. Und umgekehrt! Irgendjemand hatte sich mit irgendjemand getroffen. Ein Politiker mit seinesgleichen, ein Mörder mit seinem Opfer, ein prominentes Liebenspaar miteinander. Die Luftfeuchtigkeit lag bei gerade noch erträglichen 86 Prozent.
Ich hatte an jenem Tag, wie an allen Wochentagen, das berühmte Herzklopfen des New Yorkers, der kleine ausländische Münzen oder Metallplättchen von geringem Wert in die Schlitze der Subway-Sperren wirft. Die Dinger, rund zwanzig Mal billiger als die offiziellen Tokens zu erstehen, wurden ganz offen in den Straßen vor den Stationen feilgeboten. Verkaufen und besitzen durfte man sie, nur in die Automaten stecken durfte man sie natürlich nicht. Aber wer hielt sich in einer Stadt, in der schon der Normalverdiener ums nackte Überleben kämpft, an Vorschriften?
Was an dem Tag im Büro los war, business as usual wahrscheinlich, habe ich verdrängt. Doch daran, dass ich mir von Ernesto, dem Puertorikaner, an dessen Kolonialwarenlädchen ich auf dem Nachhauseweg immer vorbei kam und das er mit Hilfe seiner ständig wachsenden Familie fast rund um die Uhr offen hielt, ein Paar Büchsen Bier und Sandwiches einpacken ließ, erinnere ich mich noch genau. Oder waren es zwei Portionen Pastrami, jenes unglaublich dünn geschnittene, gepökelte und gebratene Rindfleisch, von dem immer alle behaupteten, es würde nie eine Weide gesehen haben? Und das sie trotzdem alle mit Genuss aßen. Seit Jahren.
Gerade als ich mich, wenigstens daran ist meine Erinnerung exakt, vom Schnürbänderlösen aufrichtete, die Lehne meines Lieblingssessels sanft im Kreuz spürte und mich anschickte, die am Morgen begonnene Zeitung zu Ende zu bringen, ließ meine Frau Judith, die von der Küche aus mit halbem Auge die CBS Evening News verfolgte, ihr verzweifelt aufgeregtes Doppel-Nein hören. Das zweite Nein lauter als das erste. Entweder war etwas Dramatisches geschehen oder etwas Banales. "Vielleicht ist die Milch wieder übergekocht", dachte ich.
Trotzdem blickte ich hoch. Auf dem Bildschirm zeigten sie gerade einen ziemlich schmutzigen, gefliesten Raum, wie er für öffentliche Toiletten typisch ist. Auf dem Boden lag, soweit man das überhaupt erkennen konnte, ein junges Mädchen oder eine junge Frau, von der im Kommentar behauptet wurde, es sei die 27. Drogentote in diesem, erst zwei Wochen alten Jahr. Allein in New York.
"Das ist doch Dorothy", rief Judith entsetzt, "Dorothy, mit der Jane auf Europatrip ist! Ihre Freundin Dorothy!"
"Das kann nicht sein!" versuchte ich meine Frau zu beruhigen, "wir haben erst gestern von unserer Tochter Jane eine Ansichtskarte aus Salzburg bekommen, mit Mozarts Geburtshaus drauf. Und beide Mädchen haben unterschrieben."
Im Fernsehen versuchten sie sich bereits an der Wetterprognose anhand eines unscharfen Satellitenfotos. Lot of thunderstorms in der Karibik, so viel war mal sicher. Judith beharrte, es wäre Dorothy gewesen und ich müsste unbedingt Dr. Snyder anrufen, den Vater des Mädchens, der ein paar Blocks weiter eine Zahnarztpraxis betrieb.
"Warum die Welt mit einer Vermutung verrückt machen?" war mein Standpunkt. Aber Judith blieb hartnäckig. Sie griff selbst zum Telefon und weil sich bei den Snyders niemand meldete, rief sie schließlich die Polizei an.
Die Tote könne im zentralen Leichenschauhaus von Manhattan identifiziert werden. Einen Ausweis habe sie nicht dabei gehabt, erfuhr man.
"Es war Dorothy!" sagte Judith, so als wenn sie sich in ihrer Meinung bestätigen wollte. "Es ist unsere Pflicht, hinzufahren! Wie du so ruhig im Sessel sitzen kannst, verstehe ich nicht. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen!"
"Das