Der Rabe antwortet nicht. Seine Augendeckel klappen mehrmals auf und zu. Er lässt ein lautes Kollern hören und beginnt dann:
»Ja, du hast Recht. Das kann eine Herausforderung für Kraft und Intelligenz sein. – Ich werde Sorcha finden. Ganz bestimmt.«
»Sobald du etwas herausbekommen hast, nehme geistigen Kontakt mit mir auf, damit wir uns treffen können.«
»Das mache ich. Wenn du vorher mit der Informationssuche fertig bist, meldest du dich, einverstanden?«
»Na klar, dann werde ich dich unterstützen. – Wie wäre es mit einigen weiteren Stückchen Schokolade, sozusagen als vorsorgliche Stärkung?«
»Da sage ich nicht nein«, erwidert der schwarze Vogel prompt.
Raban teilt eine neue Tafel auf, die bald verputzt ist.
»Pass auf dich auf, mein Freund!«
»Du auf dich auch!«, verabschieden sich beide. Dann flirrt die Luft. Der Junge ist allein in seinem Zimmer.
Es ist mittlerweile Abend geworden. Raban überlegt kurz und geht dann nach unten, um seine Eltern über sein Vorhaben zu informieren, den Großvater für einige Tage zu besuchen.
»Ich rufe Opa an und werde dann gleich zu ihm hinüberwechseln, wenn er einverstanden ist«, endet sein Vorschlag.
»Das ist eine tolle Idee. Dein Großvater wird sich riesig freuen«, stimmen ihm die Eltern zu.
»Du kannst die Hälfte von dem Brot mitnehmen, das ich heute gebacken habe. Falls Vater nicht genügend vorrätig hat, müsstet ihr sonst erst Einkaufen gehen. Das Stück Cheddar nimmst du auch mit. Warte mal, ich habe auch noch …«
»Also Mom«, unterbricht der Junge sie. »Großvater lebt doch nicht in der Wildnis. Ich nehme das Brot und den Käse mit, mehr aber nicht.«
Sein Vater Brendan schmunzelt:
»Raban hat Recht. Notfalls kommt er einfach mittels magischem Sprung zurück, um weiteren Nachschub zu holen. Aber das wird dein Vater sicher nicht zulassen. Er kann sich gut selbst versorgen und seinen Enkel dazu.« Er grinst seine Frau an, die nun auch lächelt.
»Na gut. Dann telefoniere jetzt, während ich die beiden Lebensmittel einpacke.«
Das Telefonat verläuft, wie Raban es sich erhofft. Finnegan ist überglücklich, seinen Enkel für ein paar Tage bei sich zu haben.
»Diesmal achte aber darauf, nicht vor meiner Haustür zu erscheinen. Du könntest von einem Nachbarn gesehen werden. Komm lieber sofort in mein Wohnzimmer. Da ich weiß, dass du bald erscheinen wirst, werde ich mich schon nicht erschrecken.«
»Gut. Ich sitze dann gleich auf dem Sofa. Wir sehen uns.« Damit legt der Junge auf und stürmt nach oben, um Sachen zusammenzupacken, die er mitnehmen möchte.
Er verstaut einige Kleidungsstücke in seinem Rucksack, nimmt beide alten Bücher und den Vogelkäfig mit der Figur der Hekate und will nach unten eilen. Er stutzt kurz und legt dann die Sachen auf den Fußboden. Er läuft die Treppe hinab und ins Wohnzimmer.
»Jetzt habe ich beinahe vergessen, dass du es nicht magst, wenn ich vor dir den magischen Sprung ausführe, Mom.«
»Ich bin zwar im Frühjahr mit dir auf diese Art zu dem Seniorenheim gereist, und es war nicht schlimm, aber du hast Recht, ich mag es nicht, wenn du dich vor mir in Nichts auflöst. – Hier hast du die Lebensmittel, und grüße deinen Großvater von mir.«
»Von mir auch«, fügt Brendan hinzu. Dann umarmen beide den Jungen, und Raban verlässt mit einem letzten Lächeln das Wohnzimmer. Langsam steigt er die Treppe nach oben hinauf und tritt in sein Zimmer. Schnell verstaut er das Brot und den Käse in seinem Rucksack, den er anschließend schultert. Die Bücher klemmt er sich unter den linken Arm, den Vogelkäfig hält er mit seiner rechten Hand. Er lässt seinen Blick noch einmal prüfend durch das Zimmer gleiten, dann verschwindet er.
Besuch im Norden
Als das Gleißen nachlässt, steht Raban im Wohnzimmer seines Großvaters, direkt vor dem Sofa und ruft:
»Opa, ich bin da!«
»Ich komme ja schon. Nur nicht so hastig.« Bei den letzten Worten öffnet dieser die Haustür und schaut suchend umher. »Wo versteckst du dich denn?«, fragt der ältere, aber rüstige Mann erstaunt. Er fasst sich an den Kopf und schüttelt ihn. Schnell schließt er die Eingangstür und geht ins Haus zurück, als er auch schon die Antwort auf seine Frage hört:
»Na hier, im Wohnzimmer. Du wolltest doch nicht, dass ich draußen erscheine. Du weißt schon, wegen der Nachbarn!«
Finnegan steht jetzt vor seinem Enkel.
»Natürlich weiß ich das noch. Wir haben doch erst vor ein paar Minuten telefoniert. Da mich aber sonst niemand mit dem magischen Sprung besucht, bin ich automatisch zur Tür gegangen.«
Raban hat seinen Rucksack und die Bücher auf das Sofa gelegt und den Vogelkäfig davor gestellt. Er läuft dem Großvater entgegen. Beide umarmen sich herzlich.
»Schön dich hier zu haben, mein Junge. Ich freue mich wirklich sehr.«
»Ich mich auch! – Mom hat mir etwas für dich mitgegeben.« Damit holt der Junge die beiden Päckchen aus seinem Rucksack. Diese sind schnell geöffnet und werden genauso schnell kommentiert:
»Typisch Ciana, deine Mutter. Als ob es hier nichts zu essen geben würde. Aber das Brot duftet verführerisch. Hm. Es ist ja noch ganz frisch. Das wird uns gut schmecken. Und der Käse passt sehr gut dazu. Ja, das war dann doch eine gute Idee von ihr!«, schmunzelt der alte Mann.
Schnell werden die Lebensmittel in die Küche gebracht und beide genießen dort ihr Abendessen. Anschließend kehrt jeder mit einer dampfenden Tasse Kakao in der Hand ins Wohnzimmer zurück. Zuerst fragt Raban nach den jüngsten Erlebnissen seines Großvaters, dann berichtet er von seinen. Natürlich dauert es nicht lange, und die Ereignisse aus dem letzten Sommer und die vom Frühjahr diesen Jahres werden damit verbunden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es spät in der Nacht ist, als sie beide zu Bett gehen. Die Informationen über Hekate müssen bis zum nächsten Tag warten.
In der Nacht träumt Raban.
Erneut sucht er in den vernebelten Gassen einer alten Stadt nach Röiven, begegnet dem dunklen Zauberer Baran und ist mit seinem Freund vom Schutz eines Zaubers umgeben, während ein Flammenmeer um sie herum einen Baum und darin sitzende Kolkraben verbrennt.
Der Junge wälzt sich unruhig im Bett, und der Traum ändert sich.
Ein weiß gekachelter Raum wird von einem unerträglich grellen Licht erhellt. Eine vermummte Person sticht die Nadel einer Spritze in die Brust eines Raben, der auf einem Metalltisch festgeschnallt ist. Als die Spritze geleert ist, verdreht der Vogel die Augen, dann fällt sein Kopf kraftlos zur Seite. Der Kadaver wird losgeschnallt und in einem blauen Müllsack entsorgt.
Raban stöhnt. Der Traum ändert sich erneut.
Vor einem Schreibtisch sitzt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren. Sie hält eine kleine Phiole gegen ein Kerzenlicht und nickt zufrieden. Ein triumphierendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, in dessen dunklen Augen grüne, sternförmige Einsprenkelungen zu erkennen sind. »Morgana«, blitzt der Name dieser dunklen Zauberin auf. Eine kleine Keramikfigur steht vor ihr auf dem Tisch. Morgana zieht den Stöpsel aus der kleinen Glasflasche und träufelt etwas Flüssigkeit auf die Figur, die kurzzeitig von einem hellen Schimmer überzogen wird. Die Magierin hält ihre Hände über