Wir gingen durch mehrere Räume und gelangten zuletzt in das Arbeitszimmer des Missionars. Die Möbel stammten nicht aus einer Fabrik, sondern waren augenscheinlich von dem Missionar eigenhändig hergestellt worden: ein großer Schreibtisch, etliche Stühle und Bänke und Bücherregale. Ich näherte mich dem Schreibtisch. Dieser war nach der alten Mode gemacht, die Tischplatte war zugleich Deckel eines darunter sich befindenden Kastens, der Zur Aufnahme vom Schreibmaterialien, Heften, Schriftstücken und dergleichen diente. Ich schaute auf die Tischplatte und sah, dass in dieselbe zwei Reihen griechischer Worte eingeschnitzt waren. Das Schnitzwerk war eine sehr sorgfältige und saubere Arbeit. Ich nahm meine Gläser aus der Tasche, setzte sie auf und las:
Ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.
Ich hatte laut gelesen.
„Sind dir die Worte bekannt? fragte Sims.
„Nein“, sagte dieser, ich kann mich nicht erinnern, diese Worte je gehört zu haben.“
Ich wiederholte die Worte in deutscher Sprache: „Fremdling, meld‘ es zu Sparta, dass seinen Gesetzen gehorsam wir erschlagen hier liegen… Es ist die Grabschrift, die die Spartaner dem Lionidas und seinen 300 Getreuen auf das Löwendenkmal in den Thermopylen setzten.
Es ist dies nach meiner Meinung eine der sinnreichsten und vielsagendsten Gedenkschriften, die je in Stein gemeißelt wurden.“
„Ich verstehe das Wort nicht so recht!“ sagte Sims. Ich kann wenigstens nichts besonders Schönes in ihm entdecken.“
„Das Schöne liegt in dem Wort ‚Fremdling‘“, sagte ich. „Der Spartanerkönig Leonidas war im Jahre 480 vor Christi Geburt von seinem Volke mit 300 Spartanern nach den Thermopylen gesandt worden, um diesen Engpass, die Eingangspforte zu Griechenland, gegen die herannahenden Perser zu verteidigen. Sie konnten den Befehl nicht ausrichten, denn der Feind war ihnen an Zahl weit überlegen, aber sie hielten aus und kämpften, bis der letzte Mann gefallen war. Niemand blieb übrig, um Kunde nach Sparta zu bringen. Die Toten müssen den vorüberziehenden Fremdling bitten, das, was geschehen war, in Sparta zu melden.“
„Was mag die alte heidnische Grabschrift hier auf dem Schreibtisch in der Studierstube eines christlichen Missionars zu bedeuten haben?“ fragte Sims.
„Ich weiß nicht“, entgegnete ich, „die Frage bewegt auch mich. Du, der du den Mann gekannt hast, solltest leichter eine Erklärung finden und Antwort auf die Frage geben können als ich.“
Sims suchte zwischen den mitgebrachten Schlüsseln.
„Dieser hier wird’s sein!“ sagte er und steckte den Schlüssel, den er herausgesucht hatte, in das Schlüsselloch unter der Tischplatte. Der Schlüssel passte, er drehte sich im Schloss, und Sims hob die Tischplatte auf.
Wir beide schauten zugleich in den geöffneten Tischkasten. Und was sahen wir? Mitten in der geräumigen Lade lag … eine Bibel …eine Bibel … weiter nichts.
Tief erschüttert blickten wir einander an.
Wir verstanden die Grabschrift.
Lange sagte keiner von uns ein Wort. Schließlich brach ich das Schweigen. „Sims, sagte ich, „Fremdling, sag es zu Sparta… Sims, das gilt dir und das gilt mir. Melden sollen wir’s, sagen, kundtun, rufen, hineinschreien unter das Volk, unter die Christen, dass auf Befehl derer, die unter ihnen die Gesetze geben, die regieren und anordnen, dass durch diese das Evangelium vom Sündenheiland hier zum Schweigen gebracht ist, dass die Bibel geschlossen, verschlossen, begraben wurde, – wir sollen es den Christen klarmachen, dass sie sich von blinden Leitern leiten ließen, wenn sie ihren Zustimmung dazu gaben, die Missionsarbeit hier einzustellen. Sie hätten mehr tun sollen, anstatt aufzuhören. Sie hätten mehr Arbeiter anstellen sollen, als die Arbeit hier einzustellen. Sie haben dem Satan das Feld gelassen, weil er ihnen zu stark schien. Sie haben die Indianer in Satans Händen gelassen, weil sie kein Geld mehr opfern mochten. Sie haben die Arbeit für nutzlos und vergeblich erklärt, weil sie vergaßen, dass geschrieben stehet, dass Gottes Wort ausrichten soll und wird, wozu es gesandt ist.“
Wir vernahmen laute und eilige Schritte im Nebenzimmer. Sims schloss schnell den Tischkasten. Ein Indianerjunge, an seiner Kleidung als Schüler der Regierungsschule erkenntlich, trat ein und übergab Sims einen Brief. Sims öffnete und las.
„Dumm!“ sagte er in ärgerlichem Tone, „ich muss zurück. Es sind schon wieder ein paar Kinder fortgelaufen. Meine Leute scheinen sich nicht zu helfen zu wissen.“
„Wir reiten ein anderes Mal wieder hierher!“ sagte ich.
„Nein“, meinte er, „du kannst hierbleiben, wenn du willst. Der Indianer, der uns das Mittagessen nachbringen sollte, wird schon unterwegs sein. Der kann bei dir bleiben und dich zurückbringen. Ich werde ihn auf dem Heimwege treffen und ihm Bescheid sagen. Dieser Indianer brennt sowieso schon vor Begierde, dich kennen zu lernen. Latrupp heißt er. Wir nennen ihn unter uns das, die ‚Indian Newspaper‘, die Indianerzeitung. Die Indianer lesen keine Zeitungen. Latrupp ist ihr Mann, der überall Neuigkeiten sammelt und dieselben unter seinen Brüdern und Schwestern verbreitet. Er will ihnen doch auch von dir erzählen. Du bist noch eine Neuigkeit für die Indianer.“
Mir war’s recht, noch zu bleiben. Sims ritt fort, nachdem er mit die Schlüssel übergeben hatte. Ich blieb allein zurück. Ich mochte aber nicht in dem Hause bleiben. Da war es mir zu eng geworden. Ich ging hinaus und verschloss das Gebäude.
Von der Veranda aus blickte ich zu einer Gruppe von Indianerhütten hinüber, die in einiger Entfernung von der Missionsstation lagen, aber nicht so weit, dass man nicht unterscheiden konnte, was da bei den Hütten herum vor sich ging.
Vor einer der Hütten stand ein hochgewachsenes Indianermädchen, das aber, sobald mein Blick sich dahin wandte, in der Hütte verschwand.
Najodikahi! Flog es mir durch den Sinn. Das Mädchen, das ich am gestrigen Abend gesehen hatte, war von demselben hohen Wuchs, und die Missionsstation lag in der Himmelsrichtung zu der Schule, in der das Mädchen davongelaufen war. Sollte sie es sein? Auffallend war es, dass sie sich zeigte, wenn sie Najodikahi war. Hatte sie das Fortreiten des Schulsuperintendenten beobachtet, so doch sicherlich auch, dass ich nicht mit ihm fortgeritten war und noch in der Nähe sein musste. Freilich, sie hatte keine Ursache, zu fürchten, dass ich sie kannte, und konnte sich darum getrost zeigen. Die Tracht der Schulmädchen hatte sie abgelegt, wenn sie wirklich Najodikahi war.
Doch was kümmerte mich das Mädchen! Meine Augen und Gedanken wurden durch das Bild gefesselt, das vor mir lag. Wüste, große, öde, unabsehbare Wüste, wenn ich meinen Blick nach rechts oder nach links wandte. Vor mir in weiter Ferne hohe Berge, die Gipfel von etlichen mit Schnee bedeckten, dessen blendend weiße Farbe grell vom tiefblauen Himmel abstach. Schnee im Monat Juli in Arizona! Das musste „ewiger Schnee“ sein, wie wir als Schulknaben den Schnee solcher Berge zu nennen gelehrt worden waren. Am Fuße der Berge schlängelte sich ein schmaler grüner Streifen durch den hellen Wüstensand. Das konnte nur das Grün von Bäumen sein. Dort musste Wasser sein. Der Himmel war unbewölkt, das gleiche satte, tiefe Blau, soweit das Auge reichte. Nichts regte sich, es war so still, so friedevoll. Da meinte ich zu