Wer mochte er sein? Wo kam er her? Er hatte den Saal vor Schluss der Andachtsübungen verlassen, wie er erst nach Beginn derselben gekommen war, und hatte mir so keine Gelegenheit gegeben mit ihm zu reden.
Wie er eingetreten war, sich nach einem ihm zusagenden Sitz umgeschaut und sich niedergesetzt hatte! Nicht wie einer, dem das ganze Versammlungslokal, nein, wie einer, dem die ganze Welt gehörte. Dazu war es ganz gegen die Schulregeln dieser Regierungsschule, dass außer den Angestellten und den 300 Kindern jemand ungeladen an den Sonntagsandachten teilnahm. Ohne Zweifel kannte der Mann diese Regeln, er kümmerte sich aber nicht um sie, für seine Person existierten sie nicht. Nicht einmal die Eltern der Kinder durften das Schuleigentum betreten. Besuchten sie ihre Kinder, so setzten sie sich jenseits des hohen Drahtgitters. Da machten sie ein Feuer an, kochten und brieten und reichten ihren Lieblingen durch die weiten Maschen des Drahtgeflechtes, was sie für sie bereitet hatten. Mir gab es jedes Mal einen Stich durchs Herz, wenn ich das sah. Mein Freund, der Superintendent dieser Schule, bei dem ich als Gast verweilte, meinte aber, es könne nicht anders sein, es müsse so gehalten werden; die Alten wären zu unsauber, sie hätten viele Läuse. Ließe man die Kinder in die Hände ihre Eltern kommen, so hätte man einen beständigen, nie endenden Kampf mit dem Ungeziefer. Er mochte von seinem Gesichtspunkte aus recht haben. Er sollte die Kinder sauber und rein halten, er sollte zivilisierte Menschen aus ihnen machen. Die Herren Inspektoren, die auf ihren Rundreisen jeden Tag und jede Stunde sich einstellen konnten und immer unangemeldet eintrafen, wollten alles in bester Ordnung vorfinden. Sonst gab es Berichte nach Washington und unangenehme Rüffel von dorther. Und doch, die Sache hatte noch eine andere Seite. Die Kinder sollten erzogen werden. Ihr Vertrauen, wie das ihrer Eltern, musste zu solcher Arbeit gewonnen werden. Solche Praxis aber, wie sie hier geübt wurde, konnte kein Vertrauen wecken, mehrte im Gegenteil beständig den Hass und die Abneigung der Indianer gegen die weißen Leute. Kein Wunder, dass die Regierungsangestellten klagten, alle ihre Arbeit sei umsonst, die Alten zerstörten systematisch, was den Kindern in jahrelangen Bemühungen beigebracht worden sei. Sobald die Kinder aus der Schule entlassen seien, wo sie gekleidet, beköstigt und beherbergt worden waren und ganz nach Weise zivilisierter Menschen hatten leben müssen, nähmen sie sofort die Lebensweise des „Wilden“ wieder auf und seien genauso wie die Alten. Mich wollte dünken, jemand, der sich dazu hergab, unter den Indianern zu arbeiten, müsse auch bereit sein, die Arbeit mit in den Kauf zu nehmen, die Schmutz und Ungeziefer bereiteten. Ich sagte das auch meinem Freunde, aber der lachte nur dazu.
Doch zu dem Indianer zurück!
Der Mann war meiner Rede mit Aufmerksamkeit gefolgt. Dabei konnte ich mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass er das nicht tat, um zu hören und zu lernen, sondern um zu kritisieren und zu spionieren. Wiederholt hatte ein abweisendes oder ein spöttisches Lächeln um seine Lippen gespielt. Seine Augen schienen bald wütend zu protestieren, bald höhnisch zu fragen und dann wieder ruhig, kalt, überlegen abzuweisen. Ein paarmal freilich hatte ich auch das Gefühl, als spiegelten sie ein im Innern des Mannes sich regendes Interesse wider. Dann wurde der Blick warm, aber nur momentan; ein Willensakt des Besitzers der Augen brachte den Blick zu seiner kalten Ruhe zurück und ließ ihn teilnahmslos und tot erscheinen.
Ich meinte ein Geräusch zu hören, schrak zusammen, schlug meine Augen auf, da – vor mir, regungslos, wie ein Bild, stand im Rahmen der Haustür der, an den ich dachte.
Sofort erhob ich mich und wollte meinen Mund auftun, als der Indianer mir zuvorkam und eben die Frage, die ich an ihn richten wollte, an mich richtete.
„Was willst du?“ herrschte er mich an.
„Danach wolle ich dich fragen, denn du kommst zu mir und nicht ich zu dir.“
„Was willst du?“ fragte er noch einmal, ohne zu beachten, was ich gesagt hatte. Ich fühlte, er sprach im verhaltenen Groll.
„Nicht so, mein Freund! Nicht du hast zu fragen, sondern ich, und ich frage dich jetzt – dabei trat ich ihm einen Schritt näher –, „was willst du?“
Wenn du mir nicht sagst, was du willst,“ begehrte er auf, und seine Augen blitzten, so will ich es die sagen. Ich weiß, was du willst. Nehmen willst du. Du willst nehmen. Du willst nehmen, wie ihr Bleichgesichter alle nichts anderes wollt und wisst und gewusst habt, seit ihr in unser Land gekommen seid. Aber du bist schlimmer als sie alle. Du willst uns auch das letzte nehmen, was wir haben. Ich rede nicht ganz richtig, ich sollte mich anders ausdrücken. So ist’s: Das einzige willst du uns nehmen, was uns hilft, das zu ertragen, was ihr uns zum Leben noch übrig gelassen habt.“
Er hielt einen Moment inne und gab mir Gelegenheit, einzuwerfen: „Wovon redest du?“
Du fragst noch, und du weißt doch, wovon ich rede. Unseren Hass willst du uns nehmen, der uns Kraft zum Leben gibt. O, wie ich hasse, euch hasse, ihr stolzen Bleichgesichter! Und sie das wohltut, zu hassen!“ Er knirschte mit den Zähnen und schüttelte sich. „O, so wohl!“ Und wieder schüttelte er sich.
Ich wollte etwas erwidern. Er ließ mich nicht zu Worte kommen.
„Mehr noch“, fuhr er fort, „mehr noch! Den Becher willst du uns nehmen, den Becher, den wir an den Mund setzen und leeren und wieder füllen und wieder leeren, bis uns die Sinne vergehen und wir nichts mehr wissen von dem, was wahr und wirklich ist, und alles vergessen, all unseren Jammer und alle unsere Qual.“ Man meinte, während er redete, man könne es ihm ansehen, welchen Genuss ihm das Saufen bereitete, und wie das Verlangen nach dem Becher schier in ihm wütete. „Ja,“ fuhr er fort, „den Becher willst du uns nehmen,“ Er krallte die Finger zusammen, als wolle er ihn halten. Der Becher ist der Trost unseres Lebens. Und auch die Würfel willst du uns aus der Hand reißen, die Würfel und die Karten. Sie helfen uns, die Zeit zu töten, die Zeit, die keinen Wert mehr für uns hat, seit ihr angefangen habt, euch um unsere Dinge zu kümmern. Du willst sie uns nehmen!“ Er sah mich sehr böse an. „Und nicht einmal die einzige Lust willst du uns lassen, die Lust der Nächte, dass wir heute dieses, morgen jenes Weib in unseren Armen haben. Das alles willst du uns nehmen, du, du Bleichgesicht du!“
„Habe ich das gesagt?“ fragte ich mit großer Ruhe. „Nein, gesagt hast du es nicht. Aber das ist eben deine Tücke. Du kommst nicht frei heraus mit dem, was du willst. Umgarnen, umstricken willst du uns, damit du uns nachher umso sicherer hast.“
„Du tust mir unrecht mit dem, was du sagst.“
Er lachte hell auf. „Unrecht? Ich dir? Nein, du mir. Ich will lügen, stehlen, hassen, morden, saufen, spielen. Ich will das. Dafür lebe ich. Ich will das nicht hergeben. Verstehst du? Ich will nicht. Du sagst, du willst mir das nicht nehmen? Wenn du das nicht willst, warum sprichst du denn so, wie du heute Morgen geredet hast?“
„Ich habe mir keinem Worte von dem allen geredet!“ warf ich ein.
„Nein, das hast du nicht. Aber von dem Jesus hast du geredet. Und wie hast du von ihm geredet! O, ich habe es wohl gemerkt, wenn man dir zuhört, wenn man die glaubt, was du von dem Jesus sagst, dann gibt man das alles hin. Man muss, man kann nicht anders. Aber ich will nicht, und ich werde das nicht tun.“ Dann schwieg er.
„Mein lieber Freund! Hub ich an.
„Nenne mich nicht Freund. Ich gab dir kein Recht, mich so zu nennen, ich bin nicht dein Freund, sondern dein Feind.“
„Nun