Mit ihren großen Augen blickt sie aufgeregt auf den Spalt und ist dabei schnell wieder in der alten euphorischen Aufgeregtheit, den Jungen Eduard nun von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Doch ist es nur die Oma, von der die junge Kubanerin da ganz verdattert angesehen wird.
„Ach… die neue Nachbarin.“, sagt die greise Stimme, erfreut aber auch ein bisschen verwundert.
„Guten Abend, Frau Brink.“, sagt Helena mit ihrem Akzent, der immer wie französisch klingt und grinst breit vor Überzeugung.
„Isch möschte zu Eduard.“
„Eduard? …Aber der Eduard ist gar nicht da.“
Helena ist verdutzt.
„Aber, er ist gekommen gerade.“
Die greise Dame wendet sich ungläubig dem Inneren der Wohnung zu, ein Prozess so schleichend als wäre die Zeit angehalten, Tippelschritte und das Abstützen am Türrahmen, und Helena spürt derweil das Bedürfnis, einfach wegzulaufen. Als würde ihr Leben in eine andere Bahn gelenkt, wenn sie bleiben würde, als erführe es eine Wendung mit unabsehbaren Folgen. Dieser Instinkt, dieser Animus, ruft ein nervöses, gleichwohl verheißungsvolles Kribbeln in ihr hervor. Helena Casera steht da wie angewurzelt und kann sich ein frohes Grinsen nicht verkneifen.
Kurz darauf sitzen die beiden im Wohnzimmer gemeinsam am Tisch. Niemand sagt etwas. Die Oma rührt in ihrer Teetasse herum. Eine goldene Uhr mit einem Drehpendel, eine Uhr, die das kubanische Mädchen noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat, tickt laut auf der Anrichte. Die Vorhänge sind zugezogen, obwohl es draußen noch nicht einmal ganz finster ist. Nur eine Stehlampe leuchtet, taucht das Zimmer in ein schummeriges Licht.
Es spukt im leeren Kartoffellladen.
Helena räuspert sich.
Sie muss die alte Dame nach Eduard fragen. Die muss doch etwas wissen. Oder steckt sie mit ihm unter einer Decke? Ist er sogar hier oben und gibt sich nicht zu erkennen? Aber warum? Und wenn er nicht hier oben ist, wo ist er dann? Sie hatte ihn doch ins Haus kommen sehen.
Helena will sich jetzt nicht vorhalten, wie seltsam das alles anmutet. Ebenso wenig wie den Umstand, dass sie auf Strümpfen hierher gekommen ist, in diese unheimliche Wohnung von ganz fremden Leuten und von der mysteriösen alten Damen direkt zu Tisch gebeten wurde, als sei dies vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver. Schnell denkt sie an Kuba, wie sie es in undefinierbaren Situationen in ihrer neuen Heimat oft tut. In Kuba ist man ständig überall und bei jedem, fällt es ihr ein. Da spielt es meist auch keine Rolle, wie man da angezogen ist, und man ist im Prinzip immer willkommen. Sie spürt umgehend Trost bei diesem Gedanken und trinkt nun auch endlich einen Schluck aus der Teetasse, die ihr von der Oma gereicht worden war, lächelt dankbar dabei. Doch die greise Dame isst eine Stulle mit Pflaumenmus und erwidert das Lächeln nicht. Sie stiert sie nur an mit ihren starren Augen, diesen starren blauen Augen.
Die Tasse scheppert ein wenig als Helena sie auf dem Untersatz abstellt. Sie muss es jetzt wissen. Was wird hier gespielt?
„Wo ist der Eduard denn also?“
„Eduard? Ist er nicht in seinem Zimmer?“
Die Kubanerin eilt in den Korridor. Erst ist er nicht zu Hause, jetzt vielleicht doch in seinem Zimmer, denkt sie. Die alte Dame will einen also für dumm verkaufen.
Eben diese alte Dame, die so senil ist, wie sie eigentlich auch aussieht, ruft noch ganz verdattert hinterher mit ihrer zittrigen Stimme.
„Weißt du denn wo es ist, Kind?! Das erste Zimmer rechts!“
Helena eilt mit Tunnelblick auf dieses Zimmer zu, sieht im Flur gerade noch eine Bildergalerie an der bunten Tapete. Der dicke Bruder Benny, der Eduard so gar nicht ähnlich sieht, ist dort verewigt, die Eltern, mit bauschigen Frisuren, in kunterbunter Kleidung, zufrieden lächelnd. Ein unheimliches Lächeln in Anbetracht der Tatsache, dass sie tot sind, befindet Helena noch in ihrer Rage. Auch Eduard glaubt sie auf einem feschen Portrait gesehen zu haben. Aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Schon hat sie die Klinke ergriffen und schiebt die Tür auf.
In ein dunkles Zimmer.
Jetzt ist alles egal, nur noch das Licht anknipsen, geklopft hatte sie eh nicht in ihrem Wahn.
Nichts. Ein leeres Zimmer mit gelben Tapeten und einem flauschigen Teppich. Ein Bett, das wie frisch gemacht aussieht, völlig unbenutzt. So ein unscheinbares Zimmer. Hier soll der Eduard wohnen? Sie wagt sich einen Schritt hinein. Dann noch einen. Irgendetwas muss doch auf diesen fantastischen Jungen hindeuten.
Da. Am Schrank hängt ein Hemd auf einem Bügel. Ein ganz tolles, ausgefallenes Hemd. Es glitzert regelrecht im Schein der Deckenlampe. Helena ist beruhigt. Denn nur Eduard würde ein solches Hemd tragen. Langsam füllt sich der Raum mit Leben. Da sind noch die Pinnwand über dem Schreibtisch und ein peppiger Schuhkarton unter dem Bett. Und auch ein paar kleine Gewichte zum Trainieren. Ganz beklemmt vor Begeisterung schreitet die junge Kubanerin zuerst auf die Pinnwand zu. Sofort springt ihr ein Bild ins Auge. Eine Schwarzweißfotografie von einem hübschen Mädchen. Mit stark angemalten Augen und wilden Haarsträhnen im Gesicht. Nein. Kein Mädchen. Es ist Eduard. Helena ist erschrocken und fasziniert zugleich. Denn obwohl wie ein Mädchen, sieht er immer noch wie der selbstbewusste, kesse Eduard aus. Sie geht noch näher an das Bild heran, als eine Stimme hinter ihr sie erschrecken lässt.
„Und?“
Die Oma steht im Türrahmen. Ganz apathisch. Oder nein, eher ganz traurig, denkt Helena und schüttelt zaghaft den Kopf.
„Nein, Frau Brink. Hier niemand ist weiter.“
„Er ist eigentlich nie da. Ich bin hier fast immer ganz allein. Manchmal bringt er den Einkauf und dann sehe ich ihn erst am nächsten Tag wieder. Nur der Benny kümmert sich ein bisschen um mich. Manchmal sehen wir zusammen fern. Wenn er keine Nachtschicht hat. Benny ist bei der Polizei. ...Bei der Volkspolizei.“, sagt die Oma und nickt überzeugt.
Die junge Kubanerin sieht die greise Dame eine Weile fragend an mit ihren großen Augen.
„Aber wo ist Eduard?“
„Er ist nicht da.“
Die Antwort kam prompt und klang verzweifelt, fast protestierend, sie klang ehrlich und echt,
und Helena glaubt nun nicht mehr, dass die Oma falsches Spiel spielt.
Ein paar Schuhe schreiten am Fenster im Souterrain vorbei. Helena ist mit ihnen praktisch auf Augenhöhe. Sie kann Winterstiefel erkennen und auch Bommeln daran, die durch die Schrittfolge wild hin und her tanzen. Als der Bildausschnitt vor ihren Augen wieder zu einer bloßen Kulisse erstarrt, fällt das schummerig gelbe Licht der Straßenlaternen stur auf ihr Gesicht. Einer dieser aus Beton gegossenen Lichtmasten steht schräg vor ihrem Fenster, streckt sich aus ihrer Perspektive gewaltig in die Höhe.
Durch die beschlagende Scheibe blickt die junge Kubanerin gedankenversunken auf die mausgraue Hauswand eines Nachkriegsbaus auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Bürogebäude, das zu einem so genannten Volkseigenen Betrieb gehört, zur Tageszeit erfüllt ist mit Licht und Leben hinter dicht gewebten Gardinen, jetzt mit toten Fenstern der Nacht überlassen.
Autos, mit Namen wie Trabant, Lada oder Wartburg, reihen sich dort drüben aneinander, Farbflecken, wässerig und fad.
Helena hat sich an den für ihre neue Heimat so repräsentativen Ausblick längst gewöhnt.
Hat ihn sogar mögen gelernt und interpretiert stets eine verklärte Romantik in ihn hinein.
Auch jetzt erkennt sie trotz ihrer Müdigkeit, dass der Schnee nicht nur die Wege und die Straße bedeckt. Er liegt wie Zuckerwatte auch auf den Fensterbrettern, Autodächern und den schwarzen Ästen der Bäume. Draußen scheint der Herzmuskel des Lebens knirschend im Eis stehen geblieben, doch verstecken sich irgendwo Vögel zusammengekuschelt in ihren Nestern, freut sich ein Arbeiter nach einer