„Das Zimmer war abgeschlossen!“ zischt Jean- Claude und trinkt sodann aufgebracht sein Glas leer, während sein Gegenüber mit erhobener Stimme Kontra gibt.
„Der Schlüssel steckte!“
„Und wenn schon! Du hattest es doch schon damals faustdick hinter den Ohren! Ahntest es bereits. Du wolltest alles wissen. Nach dem Tod deiner Eltern. Ein Elfjähriger. Waise. Abgestempelt. Geprägt. Ich fühlte mich verantwortlich.“
„Du konntest es doch kaum erwarten, mir alles aufzutischen! In dein Kostüm zu schlüpfen!“
„Red doch keinen Unsinn!“
„Du hast mir das alles gezeigt! Kein anderer!“
„Und du hast es schamlos ausgenutzt! Und es somit seiner Heiligkeit beraubt, die es für Menschen wie mich darstellt! Mal eben rüber zur Kaufhalle, ob dich so jemand erkennt. Das ist doch nicht, worum es geht. Das kann auch jemandem wehtun. Mir zum Beispiel. Aber das interessierte dich ja noch nie. Habe ich es dir deshalb erklärt? Jedenfalls nicht, damit du mich lächerlich machst. Ich habe es dir anvertraut und im Gegenzug einen tapferen Gefährten gesucht. Um gegen das Unrecht hier anzukämpfen!“
„Den hast du doch bekommen! Oder etwa nicht?!“
Jean- Claude ächzt und fasst sich über das faltige Gesicht.
„Mir scheint, mein junger Freund, mittlerweile ist da etwas außer Kontrolle geraten.“
Trotzig schlendert der Junge, der gerade wie ein Mädchen aussieht, und zwar tatsächlich so, wie ein richtiges Mädchen Anfang zwanzig nicht besser und echter aussehen könnte, mit seinen klackernden Absätzen zum Servierwagen und schenkt sich ein, überlegt, trinkt.
Dann lächelt er sein kühnes Lächeln.
„Du hast deine Arbeit stets gut gemacht, Jean- Claude. Ohne dich wäre ich nie soweit gekommen. Und zu deiner Beruhigung. Ich wollte dich nicht lächerlich machen. Nie.
Das ist das letzte, woran mir gelegen ist. Und heute wollte ich dich nur …überraschen...“
„Das ist dir gelungen.“
„Bestätigung erfahren. Denn es gibt grandiose Neuigkeiten.“
„Ich will sie nicht hören.“
Jean- Claude schenkt sich nach, das Gesicht mit den traurigen Falten auf das sich füllende Kristallglas ausgerichtet. Er wagt nicht an die Konfrontation zu denken, die bevor steht, wenn Eduard loslegt, er ihm den Grund seines plötzlichen Erscheinens in diesem Aufzug mitteilt, der gewiss mit einer neuen, törichten, bis ins Detail geplanten Fluchtgeschichte zu tun hat. Vielleicht kann man dem noch aus dem Wege gehen, überlegt er, ohne wirklich daran glauben zu wollen.
„Wir sind weit gekommen, Eduard. Das lässt sich nicht leugnen. Die Plakate…“
„Der Sender.“
Der Junge scheint längst wieder in seinem alten Ego angekommen. Er steht da mit leuchtenden Augen in seiner Mädchenkleidung, und Jean- Claude wird einmal mehr bewusst, dass er daran nie etwas ändern wird, dass Eduard die Maskerade aus anderen Gründen als er selbst vollzieht. Aber nun macht es ihn nicht nur auf diese ihm längst bekannte, seltsame Art neidisch. Es macht ihm Angst. Die innere Unruhe wird unerträglich.
„Nun denn, warum bist du hergekommen? Da du dich ja trotz unserer Absprachen immer seltener hier blicken lässt, muss es doch einen besonderen Grund geben für dieses glanzvolle Spektakel. Lass mich raten. Hat dein Freund Derrick wieder einen tollkühnen Fluchtplan ausgeheckt?“
„Mein Westberliner Freund Derrick, der edle Held von drüben. Der mit dem guten Geschmack?“
„Ich denke, wir meinen denselben.“
„Wenn du ihn nur endlich kennen lernen würdest. Er steht dir viel näher als du denkst. Schließlich ist er…“
„Genug. Und ja, ich brenne darauf. Ich werde ihm ein paar Takte erzählen. Was ist das für ihn hier für ein Spielchen? Was bildet der sich ein? Will sich seinen schicken Jungen wohl rüberholen und denkt, dass er das mal eben so machen kann. Wie raffiniert, dein Westberliner Modemacher. Das tapfere Schneiderlein. Entzückend.“
„Raffiniert. Ja, das ist er.“ sagt Eduard überzeugt.
„Ach ja? Ich hoffe, ihm ist inzwischen etwas Besseres eingefallen als diese peinliche Flugdrachen- Geschichte.“
Eduard sieht zur Decke und schüttelt lächelnd den Kopf.
Dann sieht er seinem Gegenüber in die Augen. Da ist dieses Funkeln in den Augen des Jungen.
„Jean- Claude, der neue Plan ist brillant. Ich sage es dir. Diesmal…“
„Ich will davon nichts hören.“, herrscht dieser und schenkt sich nochmals ein. Er will das Funkeln in Eduards Augen vergessen und nimmt sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wo er Recht hat, hat er Recht. Er muss sich durchsetzen. Nicht seinetwegen.
Es geht um das Wohl des Jungen. Und wohlmöglich um...
„Gottgütiger, und das Mädchen willst du da mit reinziehen, nehme ich an?“
„Ohne Helena werde ich nicht gehen.“
Jean- Claude schüttelt energisch den Kopf. Er muss dem Jungen dieses wahnsinnige Vorhaben ausreden, diesen irrsinnigen Plan, dessen Umrisse er sich bereits ausmalen kann. Doch eben dieser Junge ist nun von hinten an ihn herangetreten und spricht plötzlich ganz besänftigend.
„Mensch, Jean- Claude. Ohne dich wäre ich doch gar nicht so weit gekommen. Es ist genau wie du es sagst. Du hast mir das Kämpfen gelehrt und meine Instinkte geweckt, mir die Augen geöffnet. Dass man sich diesem Land nicht einfach ergeben darf. Du hast mir dadurch auch deinen Weg gezeigt. Deinen leidvollen Weg, den du gegangen bist, aber der dich stark gemacht hat. Weil du stark bist. Trotz deiner …Sache. Und auch genau deswegen.“
„Meiner …Sache.“ sagt Jean- Claude nachdenklich.
„Deine wundervollen, wunderschönen Sache. Die einfach dir gehört. Du bist…du bist einfach…“
„…Verzaubert.“
„Ja. Verzaubert.“
Jean- Claude lacht sodann in sich hinein. Erst verzweifelt, dann immer herzhafter.
Auch der Junge Eduard stimmt mit ein.
„Mensch, ist doch so. Du bist meine Glücksfee. Komm, schenk mir ein.“
Die beiden trinken, der anfängliche Streit ist schnell ins Hinterstübchen geraten. Denn Jean- Claude wird gerne melancholisch, schwärmt über vergangene Zeiten und liebt es, dabei gut dazustehen. Der Junge Eduard weiß ganz genau wie er seinen alten Freund dahin bringt, und
dieser wiederum weiß, dass sein junger Freund das nicht ganz ohne Hintergedanken macht, vermutlich, weil er ihn später doch noch von seinem Vorhaben überzeugen will. Aber er lässt sich vom Wodka und dem Charme des Jungen einlullen. Bald sind sie ganz schön angegangen und sitzen nebeneinander auf einem Jugendstil- Sofa in einer riesigen Wolke Zigarettenrauch.
Dem Mann im roten Samt ist ganz märchenhaft zumute. Er wird gleich ins Schwärmen geraten. Seine Wohnung ist längst der schillernde Pariser Salon, seine Stimme klingt jetzt avantgardistischer, aber auch femininer. Jean- Claude Ansbach ist gern in seiner Welt, die voller Hochmut und Güte sein kann, voller Poesie. Das Mädchen kommt ihm in den Sinn, Eduards Mädchen. Die Kubanerin. Dieses sinnlich kühne Geschöpf. Diese Schönheit mit seidig brauner Haut:
„Helena …Casera.“, spricht die krächzende Stimme als werfe sie eine These in den Raum.
„Genau. Scharfes S, Langes E, kurzes A, …darauf besteht sie.“
Jean- Claude rutscht tiefer zwischen bestickte Kissen, sinniert, schwelgt in Gedanken, die er so manches Mal aushaucht, nach