Die Beschwörungsformel. Hildegard Grünthaler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hildegard Grünthaler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742780669
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eines furchterregenden Riesen anschwellen und fragte mit dröhnender Stimme: »Herrin Siduri, ich bin dein Diener. Was willst du von mir?« Dabei funkelte er sie aus seinen dunklen, von buschigen Brauen umrahmten Augen drohend an. Obwohl sie den Rauchgeist schon so oft in ihre Dienste gezwungen hatte, konnte sich Siduri einer Gänsehaut nicht erwehren. Sie wusste, dass Kalatur ihre ehrgeizigen Pläne und Intrigen missbilligte, aber sie wusste auch, dass er ihre Befehle befolgen musste. Es war ihr gelungen, Sanheb, den greisen Oberpriester des Gottes Marduk, zu belauschen, als jener den Geist gerufen hatte. Seither kannte sie die Beschwörungsformel. Wenig später hatte sie Sanheb die Flasche gestohlen, die Kalatur als Wohnung und Ort der Regeneration diente. Nun war der Geist ihr Diener und musste ihr zu Willen sein.

      »Ich will, dass mein Sohn Ninzub die Prüfungen als strahlender Sieger verlässt!«

      »Herrin Siduri, du überschätzt meine Kräfte. Ich kann deinen Sohn nicht klüger machen, als er in Wirklichkeit ist!«

      »Kalatur stell dich nicht so an! Du hast bewiesen, dass du Pfeile lenken und Tiere stolpern lassen kannst, also kannst du auch dafür sorgen, dass Eli heute wieder wie ein Trottel und Dummkopf dasteht! Ich will, dass Ninzub der nächste König von Babylon wird und nicht er.«

      »Herrin Siduri, vergiss nicht, dass Gilgal, der die jungen Königssöhne in der Kunst des Lesens und Schreibens unterweist, den König stets über deren Fortschritte unterrichtet. Eli ist ein eifriger, gelehriger Schüler, während dein Sohn Ninzub nur Dummheiten im Kopf hat und die Keilschrift nur mit allergrößter Mühe lesen, geschweige denn richtig schreiben kann!«

      »Papperlapapp«, fuhr Siduri den Geist an, »keine faulen Ausreden! Jage Gilgal einen gehörigen Schrecken ein, dann wird er dem König genau das berichten, was du von ihm verlangst! Also fliege nun davon und folge meinem Befehl!«

      Kalaturs Körper schrumpfte und wurde wieder zu feinem, weißem Rauch. Langsam und beinahe unsichtbar schwebte er durch den Garten des Palastes. Er sah Siduri durch eine Tür huschen, und weil er ein Geist war, sah er auch, was Siduri nicht gesehen hatte. Die alte Eninki, die einst die Amme des Königs gewesen war, stand hinter einem Baum verborgen und hatte Siduri belauscht. Kalatur machte sich darüber keine Gedanken. Er war ein Geist, und er musste die Befehle derer ausführen, die nach ihm riefen - ganz gleich, ob ihm die Befehle gefielen oder nicht. Unbemerkt flog er durch die königlichen Gärten und die weiträumige Palastanlage, bis er zu dem Raum kam, in dem der Oberschreiber und Lehrer Gilgal die jungen Königssöhne unterrichtete.

      Gilgal war alleine im Raum. Er war damit beschäftigt, die Tontafeln für die bevorstehende Prüfung vorzubereiten. Seine Stirn war von Sorgen umwölkt. Etara, der alte Waffenmeister, der bisher die Königssöhne in der Kriegskunst unterwiesen hatte, war beim König in Ungnade gefallen. Gilgal war von heftiger Furcht ergriffen, dass ihn womöglich das gleiche Schicksal ereilen könnte. Er gab sich einen Ruck:

      »Sei kein Angsthase Gilgal!«, befahl er sich selbst. »Deine Schüler sind eifrig und machen gute Fortschritte. Einzig Ninzub trübt das gute Bild. Er ist frech und faul und hat nur Unsinn im Sinn. Aber der König weiß das. Er kann es mir nicht anlasten!« Er wollte gerade die metallenen Schreibgriffel bereitlegen, als er den Rauch bemerkte. Es war ein seltsamer Rauch, denn nirgendwo war Feuer. Der Rauch begann sich zu drehen, bildete einen Wirbel und plötzlich wuchs aus ihm ein Riese heraus. Gilgal fielen klappernd die Griffel aus der Hand. Der Riese wuchs weiter und füllte nun beinahe das halbe Zimmer aus. Er trug keine Kleider, nur ein rotes Tuch, das er wie einen Lendenschurz zwischen den Beinen hochgezogen und um die Hüften gewickelt hatte. Gilgal schlotterten vor Angst die Knie, als der Riese sich zu ihm hinunterbeugte. Die langen, schwarzen Haare, die der Riese im Nacken zusammengebunden hatte, fielen dabei nach vorne und kitzelten Gilgal an der Nase. Gilgal musste niesen. »W-w-was w-w-willst du von mir?«, stotterte er zitternd vor Furcht.

      »Nicht viel, nur eine Kleinigkeit!« Die Stimme des Riesen dröhnte so laut, dass Gilgal hoffte, der ganze Palast würde zusammenlaufen und ihm zu Hilfe eilen. Schwer legte ihm die furchterregende Gestalt die Hand auf die Schulter.

      »Ich stehe zu deinen Diensten, erhabener Herr«, stammelte Gilgal.

      »Wunderbar!«, dröhnte der Hüne. »Wenn du zu meinen Diensten stehst, wirst du heute ganz sicher dem König berichten, dass Siduris Sohn Ninzub der fleißigste und klügste deiner Schüler ist!« Und zur Bekräftigung seiner Worte fasste er Gilgal vorne am Obergewand und hob ihn ein wenig in die Höhe.

      »Erhabener Herr, das kann ich nicht!«, jammerte Gilgal. Der Riese hob den Oberschreiber noch ein wenig höher.

      »Und warum nicht?«

      »Es entspricht nicht der Wahrheit. Ninzub ist ein Dummkopf, ein Faulpelz und ein Tunichtgut!«

      Der Riese schüttelte Gilgal wie einen leeren Getreidesack.

      »Täuschst du dich da nicht?« Seine Stimme klang drohend wie Donnergrollen.

      »Nein, erhabener Herr. Ich täusche mich nicht. Ich bin schließlich sein Lehrer!«, wimmerte Gilgal von der Zimmerdecke herunter.

      »Oh weh, ich glaube, die Sommersonne hat dein Gehirn vertrocknet!«, dröhnte der schreckliche Hüne. »Aber an der frischen Luft wird dir bestimmt gleich wieder einfallen, dass Ninzub der klügste und eifrigste von allen deinen Schülern ist!« Er klemmte sich Gilgal unter den Arm und schwebte mit ihm zur Tür hinaus.

      Gilgal wollte schreien, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wagte nicht nach unten zu sehen, als er, gehalten vom Klammergriff des Geistes, über die Dächer Babylons hinweg schwebte.

      »Nun«, tönte der Riese, »ist dir jetzt wieder eingefallen, dass Ninzub der klügste und beste deiner Schüler ist?«

      »Aber nein, aber nein, das stimmt nicht!«, jammerte Gilgal.

      »Dann lass ich dich jetzt in den Euphrat fallen, damit das Wasser des Flusses dein vertrocknetes Gehirn wieder aufweicht!«, drohte der Peiniger des armen Oberschreibers. Gilgal schlug die Augen auf und sah weit unter sich die Fluten des Euphrats im Sonnenlicht glänzen.

      »Erbarmen! Hab Erbarmen mit mir! Ich kann nicht schwimmen!«, schrie der Lehrer in höchster Not. Der Geist hielt Gilgal mit einer Hand am Obergewand gepackt.

      »Wer ist dein bester Schüler?«

      »Ninzub! Ninzub ist mein bester Schüler!«

      »Na also!«, ertönte zufrieden die Stimme des Riesen.

      »Weh mir«, klagte Gilgal, »der Zorn des Königs wird schrecklich sein!«

      »Vergiss des Königs Zorn«, warnte der Riese, »mein Zorn wäre noch viel schrecklicher!«

      Nebukadnezar, Herrscher über Babylon und Sieger über das Ost- und Westland, ließ sich würdevoll auf dem reich verzierten Thronsessel nieder, den seine Diener im Schulzimmer der Königssöhne aufgestellt hatten. König Nebukadnezar legte großen Wert auf die Ausbildung seiner Söhne. Nicht nur im Kriegshandwerk, nein, der König wollte, dass sie auch im Lesen und Schreiben der Keilschrift unterwiesen wurden und dass sie rechnen konnten. Und sie sollten die Gesetze kennen, die vor langer Zeit der weise König Hammurabi erlassen hatte, damit auch in Zukunft Gerechtigkeit und Ordnung in der Welt herrschten. Besonders von Eli, dem Sohn seiner ersten Gemahlin, erwartete er, dass er sich vor den Söhnen seiner zahlreichen Nebenfrauen hervortat. Schließlich sollte er der nächste König von Babylon sein. Ein König, der auf das Wissen eines Schreibers angewiesen war, weil er nicht imstande war, den Brief eines fremden Königs zu lesen, konnte belogen und betrogen werden. Ein König durfte weder ein ungebildeter Tölpel noch ein feiger oder ungeschickter Krieger sein. Wenn sich Nebukadnezar allerdings daran erinnerte, welch jämmerliches Schauspiel die jungen Prinzen, allen voran Eli, kürzlich auf dem Exerzierplatz geboten hatten, schwollen ihm noch heute die Zornesadern auf der Stirn. Zuerst war Eli kopfüber vom Streitwagen gefallen und dann, als ihm geheißen ward, mit dem Pfeil den Adler vom Himmel zu holen, hatte er zwar zitternd auf den Greifvogel gezielt – aber den alten Waffenmeister ins Hinterteil getroffen. Und seine anderen Sprösslinge? König Nebukadnezar mochte gar nicht mehr daran denken. Einzig Ninzub, den er immer für einen Feigling und Dummkopf gehalten hatte, war es gelungen, sich