Zwei volle Tage war die örtliche Polizei mit der Spurensicherung in dem Dorf. Einige Beamte sahen aufgrund der Höhe des Dorfes und vermutlich auch durch das immer leichte Schwanken und Schaukeln der Hängebrücken richtig grün im Gesicht aus. Erst am späten Abend des folgenden Tages wurde die Leiche abgeholt, wobei der Bestatter mit seiner starken Höhenangst zu kämpfen hatte und sein Gehilfe ihn kräftig festhalten musste. Die sterbliche Hülle des Horatio auf die Erde zu bugsieren, war schon eine Aktion für sich. Die Ärztin, Frau Doktor Zenker, nahm die ersten Untersuchungen vor und der zuständige Kommissar entschied, die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen zu lassen, obwohl die Todesursache augenscheinlich sein musste. Der Bürgermeister, Donkur von Rehlen, stand zusammen mit dem Vorsteher, Rembert Weilenbach, den ermittelnden Beamten mit wichtiger Miene mehr im Weg, als das sie hilfreich waren. Der Vorsteher jammerte nur herum, wer denn nun die Gärtnerei weiterführen könnte. Man solle zur Klärung und Ausschreibung doch eine Sondersitzung des Dorfrates schnellstens einberufen. Erst die Frau des Bürgermeisters, Mathilde von Rehlen, brachte ihn durch einen lauten Ordnungsruf zur Räson, woraufhin Rembert Weilenbach beleidigt den Mund hielt und auch auf Nachfragen des Bürgermeisters ostentativ zum obersten Wipfel schaute. Dieser Vorsteher fiel erfahrungsgemäß nach einem derartigen Anraunzer beleidigt für lange Zeit komplett aus.
Die Ermittlungen der Polizei gerieten ins Stocken, Recherchen über das Leben des Gärtners Horatio Müllersohn brachten nichts Nennenswertes zutage. Er schien überall unauffällig gelebt zu haben, war zum Ärger der Beamten nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, hatte anscheinend ordentlich gesichtslos in mehreren Städten gelebt, bis er sich dieser spleenigen Dorfgemeinschaft in den Wipfeln angeschlossen hatte, wie es der Kommissar ausdrückte. Die Polizei vernahm in der nächsten Polizeistation mit der eingerichteten Mordkommission ‚Höhe‘ mehrfach alle Bewohner des Höhendorfes und musste nach einigen Wochen den Fall vorerst als ungelösten Fall eines Eifersuchtsdramas auf das Beamteneis legen. Wie die Beamten auf eine Eifersuchtsgeschichte kamen, blieb allen ein ungelöstes Rätsel. Es schien so, als habe der ermittelnde Staatsanwalt in seiner Ehe und in den Ehen seiner Bekannten sowie seinen amtlichen Fällen schlechte Erfahrungen mit Partnern gemacht. Der arme Horatio war immer Einzelgänger gewesen und hatte nach alledem, was man von ihm wusste, nie eine Partnerschaft gehabt. Als der Kommissar nach der Theorie mit der Eifersucht in der Vernehmung gefragt wurde, zuckte er nur mit den Schultern und knurrte etwas von: „Das könnte ja durchaus so gewesen sein. Menschen sagen nicht immer alles von sich und der Gärtner hatte bestimmt irgendwo eine heimliche Gärtnerin.“ Dabei grinste der Kommissar vielsagend und zeigte seine gelben und schiefen Zähne.
Als Wenkeldon Rath auch nochmals vorgeladen wurde, hielt er sich nur kurz und knapp an die Fragen und wollte nichts weiter von den Beamten wissen. Die schienen ihr festes Raster der Ermittlungen zu haben und es schien ihnen egal zu sein, ob der Täter gefasst wurde oder nicht, nach dem Motto: Jeder macht einmal einen Fehler und dann gleichen wir alles noch einmal ab, bis wir den Täter durch Kommissar Zufall fassen. Im Zeitalter der Computer ist das ja einfach. Früher hatte man auf den Fundus der Gedächtnisse von Kollegen zurückgreifen müssen. Danach begann dann die mühsame Arbeit, die alten, verstaubten Akten durchzulesen. Sie hofften damals immer, die alten Kollegen würden sich nicht erinnern oder in der Erinnerung eine ordentliche Portion Zweifel äußern. Diese Zweifel würden wie ein Kuchenteig solange ausgewalzt werden, bis nichts mehr an der Rolle kleben blieb und der Fall sich von selbst löste oder eben ungelöst blieb, was weniger Arbeit machte.
Was die Beamten nicht erkennen konnten, war die Tatsache, dass Wenkeldon mit Argusaugen alles beobachtete und wie ein Schwamm alles an Informationen aufsog, was ihm zu Ohren kam. Nach dem zweiten nutzlosen Verhör nahm er sich vor, den Fall selber in die Hand zu nehmen und alles unter seinem bewährten, wissenschaftlichen, analytischen Geist zu stellen. Er sagte sich nach langem Überlegen in seinem Baumhaus, es sei ja letztlich egal, ob ich sozusagen als Archäologe alte Scherben und Gegenstände ausgrabe, alles mit einem feinen, kleinen Besen vom Staub befreie oder ob ich mit dem Hirnschmalz einen kriminalistischen Fall löse. Ich habe zwar keine Vorkenntnisse in der Polizeiarbeit, das scheinen die Beamten aber auch nicht zu haben oder sie verdrängen diese. Wenkeldon ging in Klausur, sprach zu niemandem über seine Arbeit. Er war ohnehin als Gelehrter und somit als höchst verschroben verschrien und so fiel es nicht sonderlich auf, dass er für mehrere Wochen abtauchte und sehr häufig außer Haus war. Die Leute munkelten, er hätte in der Stadt seine große Liebe gefunden und es wäre nur eine Frage der Zeit, wann er sein schwankendes Zuhause endgültig aufgeben würde. Interessenten gab es genügend und so schlichen als Spaziergänger getarnt einige Bewohner als Sondierungsbeauftragte auffällig um die Behausung des kauzigen Herrn Gelehrten herum.
Wenkeldon wälzte alte Tageszeitungen und ließ sich zum Schein in ein Krankenhaus mit ungeklärten Magenproblemen einweisen. Als schließlich nach einigen Untersuchungen kein Ergebnis feststand, kratzte sich der Herr Professor das rechte Ohr und ordnete für den nächsten Tag eine schwierige Untersuchung mit einer Magensonde bei ihm an. Wenkeldon durchschaute die Aktion, dass der Herr Professor ihn ertappt und ihn in die Schublade der Simulanten verstaut hatte. Nun fragte der Arzt ihn unverblümt: „Sagen Sie, mein Herr, was treibt Sie zu uns? Sicherlich nicht der Magen oder das anliegende Gedärm. Wir finden nichts und wir wissen einfach nicht weiter. Die Androhung der Magensonde scheint bei Ihnen nicht zu greifen. Ich habe bei anderen Patienten nach einer solchen Anordnung andere Erfahrungen im Verhalten gemacht.“
Wenkeldon sah ihn an und erwiderte: „Ich kann oder muss nun meine wissenschaftliche Deckung ein wenig lüften. Ich bin in der Tat unter einem Vorwand hier. Die Kosten für den freundlichen Aufenthalt bei Ihnen zahle ich selbstverständlich aus eigenem Portemonnaie. Keine Kasse wird geschröpft werden. Ich habe bei einigen Recherchen herausgefunden, dass vor einigen Jahren Ihre Mitarbeiterin, Frau Doktor Serberito Zenker, hier angestellt war. Sie ist nun in meinem Dorf mit dem Namen ‚Walddach zu Wipfelshöh‘ quasi meine Nachbarin und betreibt zusammen mit dem weiteren Arzt, Doktor Zebelnius Aberlein, die Praxis. Ich muss Ihnen in kurzen Worten den Vorfall mit unserem Gärtner Horatio Müllersohn schildern.“ Wenkeldon erzählte in einem kurzen, präzisen Vortrag den tragischen Vorfall. Der Professor hörte aufmerksam zu und unterbrach ihn nicht. Dann sah er kurz zu seinem Telefon, das heftig blinkte und damit wohl signalisieren wollte, dass der andere Teilnehmer ihn dringend zu sprechen wünschte. Der Professor sagte leise, so als fürchtete er um einen ungebetenen Ohrenzeugen: „Ich lege Ihnen eine Personalakte auf den Tisch und verlasse für zehn Minuten den Raum.“ Dann meldete er sich am Telefon, knurrte einige medizinische Begriffe in die Muschel und ging zu seinem Aktenschrank. Er legte Wenkeldon die versprochene Akte hin und war schon aus dem Raum.
Wenkeldon konnte nun seine Aufregung kaum im Zaum halten und blätterte sofort los. Er las laut vor und wurde immer leiser. Er notierte sich einige Daten und Zeiträume und schon stand der Professor wieder im Raum. Wenkeldon klappte die Akte zu, bedankte sich und bat um die Rechnung an seine Adresse. Er würde heute noch das Klinikum verlassen.
Die ganze Nacht saß Wenkeldon in seinem Baumhaus im Arbeitszimmer und schrieb erst einen Bericht als Gedächtnisprotokoll und verfasste dann einen genauen Ablaufbericht der letzten Tage mit seinen Einschätzungen in seinem Computer. Die Speicherung nahm er auf zwei Sticks als Sicherheitskopien vor und versteckte diese in seinem Haus. Es wurde schon wieder hell, als er die Berichte ausdruckte. Er verließ in aller Herrgottsfrühe sein Baumhaus und nahm die Gondel zum Gewächshaus des Gärtners Horatio.
Der Morgennebel lag dick und schwer in der Luft und gab einigen exotischen Orchideen die nötige Wachtstumsfeuchtigkeit. Er umrundete die Anlage der Gärtnerei und suchte einen Eingang, da die Eingangstür mit einem leuchtenden Polizeisiegel zugeklebt war. Er fand schließlich eine kleine Tür, die merkwürdigerweise offen stand und Wenkeldon hielt den Atem an. Er befürchtete, dass jemand in dem weitläufigen Gewächshaus war. Es war aber niemand zu sehen und er ging in die Abteilung der Tomaten. Dort fiel ihm auf, dass die Tomaten in einem merkwürdigen Muster gepflanzt waren. Es waren nicht allzu viele Tomaten und dazwischen war das, wonach er suchte. Hier standen Pflanzen, die denen der Tomatenpflanzen täuschend ähnlich sahen.