Als hätte sie ihn von einem anderen Stern zurückgeholt, runzelte Ingvar ungläubig die Stirn, bevor sich seine Miene erhellte und er hektisch wurde. „Ähm … natürlich …“, erwiderte er, erhob sich und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Er öffnete eine Tür in der hinteren Ecke des Raumes. Ein langer hoher Gang verbarg sich dahinter. Thea erkannte ihn wieder, jedoch wählte Ingvar nicht die Treppe zu den oben gelegenen Wohnräumen, sondern schob eine verborgene Tür auf, die sich im Mauerwerk befand. Ein Zimmer mit einer Tafel in der Mitte und einem hohen Bücherschrank zur Linken offenbarte sich hier. An der Stirnseite des Raumes hing ein riesiger Wandteppich, der eine sonnenüberflutete Landschaft zeigte. Kälte schlug ihnen entgegen, da kein Feuer im Kamin brannte. Fröstelnd zog Thea die Arme enger an den Körper.
„Verzeiht! Ich war auf keine Besprechung vorbereitet“, entschuldigte sich Ingvar.
Wortlos kniete sich Wal-Freya an den Kamin und legte die Hand über die vorbereiteten Hölzer. Wenige Augenblicke später schlugen Flammen um die Scheite, loderten auf und verbreiteten magische Wärme im Zimmer. Beeindruckt nickte Ingvar Wal-Freya zu, dann rückte er seinen Stuhl heran und nahm Platz. Die anderen folgten seinem Beispiel, nur Hermodr blieb stehen, da die Tafel nicht ausreichend Sitzmöglichkeiten bot.
„Also“, eröffnete Hermodr das Gespräch. „Wie kommt es, dass du davon wusstest, dass wir uns auf dem Weg nach Niflheim befanden?“
„Ich betreibe Handel mit einigen Schwarzalben. Die Vorratskammern der Feste sind an jedem Morgen frisch gefüllt, doch fehlt es hier und da an Stoffen, Fellen und manchmal auch an Holz. Einer der Schwarzalben riet mir, aufmerksam zu sein, da sich möglicherweise bald eine göttliche Auseinandersetzung in meiner Nähe abspielen könnte.“
„Eine göttliche Auseinandersetzung?“, wiederholte Wal-Freya. Sie und Hermodr tauschten Blicke. „Hat er das konkretisiert?“
„Nicht wirklich. Als ich fragte, von welchen Göttern er spräche, antwortete er nur: von den Asen.“
„Es ist völlig ausgeschlossen, dass wir einen Verräter in Asgard haben“, brummte Hermodr.
„Wer zum Himmel geschaut hat, hätte unsere Pferde nach Niflheim reiten sehen können“, erwiderte Tom.
„Walkürenpferde auf dem Weg nach Niflheim sind nichts Ungewöhnliches“, versetzte Wal-Freya sofort. „Außerdem hätten es Ingvars Reiter mit ihrer Nachricht nie so schnell an die Landesgrenzen geschafft. Diese Information hatte er lange vor unserem Aufbruch aus Asgard.“
„Das ist richtig“, erwiderte Ingvar. „Der Schwarzalb war vor zwei Wochen hier. Als Ziel nannte er auch nicht Niflheim, sondern Hel.“
Wal-Freya schnaufte überrascht. Auch Hermodr und die anderen holten erschrocken Luft.
Sie beugte sich nah an den Wikinger heran. „Was wir hier besprechen, darf diesen Raum niemals verlassen“, sagte sie eindringlich.
„Natürlich“, bestätigte Ingvar, worauf ihm Wal-Freya ihre Pläne offen legte. Mit jedem Wort, das die Walküre sprach, wurden seine Augen größer.
„Ich weiß nicht, meine Göttin, ob das ein weiser Plan ist“, erwiderte er ehrfürchtig. „Hel ist euch Asen ebenbürtig. Odin gab ihr einst Macht über die neunte Welt. Streng genommen beschränkt sich ihre Autorität nicht nur auf diese. Im Tode gebietet sie sogar über euch! Sie zu verstimmen, halte ich für einen schlechten Plan. Wohin soll das führen?“
Hermodr verschränkte die Arme. „Wir Asen haben ausführlich darüber beraten, Ingvar.“
„Da war der Plan, nach Hel zu gehen, aber noch geheim“, erinnerte Juli. Sie betonte das Wort ‚geheim’ so nachdrücklich, dass Thea die nächsten Worte ihrer Freundin schon erahnte, ehe sie sie aussprach: „Geheim ging wieder einmal mächtig in die Hose!“
„Ob der Schwarzalb Hermodr gesehen hat, als er den versteckten Weg nach Hel gesucht hat?“, fragte Tom.
„Selbst wenn, dann hätte er es niemals vor zwei Wochen erzählen können“, erwiderte Hermodr.
Juli brummte. „Die Idee nach Hel zu gehen, hatten wir schon in Jötunheim.“
„Verdammt! Das stimmt! Ganz sicher hat es von dort seinen Weg in die Welt genommen“, erwiderte Hermodr überzeugt.
Wal-Freya ballte die Fäuste. „Wie es passiert ist, spielt keine Rolle mehr! Die Frage ist, was wir jetzt damit anstellen!“
„Vielleicht blasen wir die Sache einfach ab“, brummte Juli.
Schweigen legte sich über die Gruppe. Schließlich raunte Hermodr: „Wir haben lange und hitzig darüber beraten. Nach vielen Für und Wider haben wir uns dafür entschieden. Wir können uns jetzt nicht über den Beschluss hinwegsetzen. Balder zu befreien ist richtig und es muss unsere oberste Priorität bleiben.“
Sie schwiegen und Thea blickte verunsichert von einem zum anderen.
„Wir klopfen an die Vordertür“, erwiderte Wal-Freya schließlich.
„Was?“, schnaufte Thea.
„Ein Gerücht, das sich bis zu Ingvar trägt, wird auch Hel zu Ohren gekommen sein. Ich bin davon überzeugt, dass sie bereits weiß, dass wir kommen. Wir alle wissen, in wessen Dunstkreis wir gesessen haben, als wir das erste Mal darüber sprachen, nach Hel zu gehen. Wenn Loki uns belauschte, hat er seine Tochter bereits über unsere Pläne informiert. Dieses Schandmaul wird unser Vorhaben überall publik gemacht haben. Was er allerdings nicht weiß, ist, mit wem wir auf die Reise gegangen sind. Wir teilen uns also auf. Hermodr und ich erstatten Hel einen offiziellen Besuch. Wir fordern noch einmal von ihr, Balder frei zu lassen. Ihr drei werdet währenddessen den versteckten Zugang aufsuchen und die Unterwelt nach Balder auskundschaften! Hel wird vielleicht einen Angriff von uns fürchten, sie wird aber nie damit rechnen, dass wir uns durch die Hintertür schleichen.“
„Wir allein?“ Juli sprang auf.
„Sie könnten hier warten, bis ihr zurückkommt“, schlug Ingvar eilig vor.
Wal-Freya schüttelte den Kopf. „Wenn wir Hel ablenken, können sie ungestört nach Balder suchen. Hel wird uns Balder niemals überlassen. Wenn sie uns überhaupt noch Einlass gewährt, um mit ihr zu sprechen. Dafür wird Lokis falsche Zunge gesorgt haben.“
„Ja und dann? Was, wenn sie euch fortjagt?“, schnappte Juli.
„Dann verlassen wir Niflheim zum Schein, schlagen einen Haken und stoßen später zu euch. Vielleicht habt ihr bis dahin schon herausgefunden, wo Balder sich aufhält. Wenn ihr Balder gefunden habt, nehmt ihr den gleichen Weg zurück, den ihr gekommen seid. Wir kommen euch dann auf diesem Pfad entgegen, denn die beiden anderen sind bewacht.“
Juli verschränkte murrend die Arme. „Was ist das schon wieder für ein unsinniger Plan? Wenn ihr sowieso runter kommt, dann können wir das doch gleich zusammen tun. Wir warten hier und ihr holt uns ab, sobald ihr euer Ablenkungsmanöver beendet habt.“
Auch Ingvar rutschte unruhig auf seinem Stuhl. „Das halte ich auch für besser. Drei Lebende werden in Hel doch sofort auffallen. Keiner von ihnen sieht besonders tot aus.“
„Und das soll auch so bleiben!“, schnappte Juli.
„Juli, wenn ihr hier auf uns wartet, verlieren wir Zeit. Wenn unser Ablenkungsmanöver misslingt, seid ihr unsere einzige Chance, Balder zu befreien.“
„Sie werden den Eingang niemals alleine finden, Freya“, gab Hermodr zu bedenken.
„Sie nicht, aber Kvikur wird es. Du wechselst dein Pferd mit dem von Juli oder Tom.“
„Wohl eher das von Tom“, brummte Hermodr. „Es hat schon einen Mann getragen und wird eher zu überreden sein.“ Während er abwechselnd Juli, Tom und Thea ansah, erwiderte er: „Ich gebe zu, mir ist auch nicht wohl dabei, euch alleine loszuschicken, aber Wal-Freya hat Recht. Wenn sich bereits die Schwarzalben erzählen, dass hier etwas im Gange ist, weiß Hel, dass wir kommen.