Trotzdem ist das Wehklagen von Frau Holderbach nachvollziehbar und vollkommen berechtigt. Umso mehr, als ich in den darauffolgenden Tagen viele übereinandergeschichtete Toilettenpapierpackungen durch meine Straße habe wandern sehen. Sie bewegen sich wie auf dem Rücken von Blattschneiderameisen unter meinem Fenster vorbei. Ein Strom von Toilettenpapierhamsterern schiebt sich inzwischen durch meine Straße. Eine lästige Ameisenstraße ist hier entstanden. Es gibt kaum etwas, was mich nach 12 Jahren Fenstersitzen noch erschüttern oder in Erstaunen versetzen kann, aber diesen Anblick von Dutzenden von Blattschneiderameisen, die Toilettenpapier in ihren Bau schleppen, musste ich erst einmal einordnen und verstehen. Am Anfang habe ich den Blattschneiderameisen unter dem schwebenden Toilettenpapier noch einen wohlgemeinten Ratschlag hinterhergerufen – sie sollen einfach weniger essen, das würde automatisch die Häufigkeit des Stuhlgangs reduzieren und einen Hamsterkauf überflüssig machen. Aber ich bin schnell davon abgekommen, meine Ratschläge liefen ins Leere, am Ende folgten die Ameisen nur ihrem Instinkt.
Das schwarze Loch
Ich gebe unumwunden zu, dass ich zu Beginn der Seuche selbst Hamsterkäufe gemacht habe. Aus einem ersten Impuls und später auch aus einer Panikreaktion heraus habe ich vorsorglich meinen Vorrat an Puzzle-Spielen aufgestockt, als in den Medien das Wort ‚Hamsterkäufe‘ noch gar nicht kursierte. Für meine in Bezug auf das Konzentrationsvermögen äußerst anstrengende Fenstersitzertätigkeit brauche ich das Puzzeln als Ausgleich am Feierabend. Im Lauf der Jahre ist aus diesem anfänglichen Hobby aber sehr viel mehr geworden. Je mehr ich ins Fenstersitzen hineingekommen bin, je intensiver ich mich damit befasst, je ernsthafter ich diese Tätigkeit betrieben habe, desto mehr hat das Puzzeln als Ausgleich dazu an Bedeutung gewonnen. Mittlerweile ist es existentiell geworden. Wenn ich die Bedeutung des Puzzelns für mein Seelenheil heute ermessen sollte, so müsste ich sagen, es ist dem Fenstersitzen fast gleichzustellen. Es ist mehr als ein bloßer Ausgleich zu meiner Haupttätigkeit, dem Fenstersitzen. Im Puzzeln kann ich mich am Abend wieder regenerieren und neue Kraft und Zuversicht für den nächsten Arbeitstag schöpfen. Es lädt mich mit positiver Energie auf. Darüber hinaus ist es nicht nur Ausgleich, sondern Ergänzung zum Fenstersitzen. Denn auch für erfolgreiches Puzzeln ist höchste Aufmerksamkeit erforderlich. Das Puzzeln bereitet mich auf meine Tätigkeit als Fenstersitzer am nächsten Tag vor, indem es meine Konzentrationsfähigkeit verbessert und meine Sinne schärft – wie oft muss ich aus 20 verschiedenen Rottönen präzise das richtige Rot heraussuchen, wenn ich beispielsweise ein 5000-Teile-Puzzle eines Rosenstrauchs zusammensetze. Gleichzeitig trainiert das Puzzeln meine Fähigkeit zu unerschöpflicher Geduld. Im Grunde sind sowohl für das Fenstersitzen als auch für das Puzzeln dieselben Fertigkeiten gefordert: Geduld und Konzentrationsvermögen, ein wacher Verstand, ein scharfer Blick, ein ausgezeichnetes Reaktionsvermögen und eine gute Kombinationsgabe. Ich habe schon oft überlegt, das Hobby zum Beruf zu machen, aber das ginge natürlich auf Kosten des Fenstersitzens. Das verbietet mir mein Pflichtgefühl, mein Gespür für die Verantwortung, die ich der Gesellschaft gegenüber habe. Als Fenstersitzer bin ich in höchstem Maße systemrelevant, während ich als Puzzleexperte niemals die Bedeutung innerhalb der Gesellschaft erreichen könnte, die ich mittlerweile durch das Fenstersitzen erlangt habe. Dennoch kann ich sagen, dass mir das Puzzeln genauso am Herzen liegt wie das Fenstersitzen. Wenn ich mich eines Tages nur für eine dieser Tätigkeiten entscheiden müsste und die andere aus irgendwelchen mir heute noch unbekannten Gründen gezwungen wäre aufzugeben, dann könnte ich keine klare Wahl treffen. Die Entscheidung müsste aber getroffen werden, würde man mir sagen, dann würde ich innerlich daran zerbrechen. Ich müsste entweder das Fenstersitzen aufgeben oder das Puzzeln. Dann würde ich daran zugrunde gehen.
Weil ich dem Puzzeln eine gleich hohe Bedeutung in meinem Leben eingeräumt habe wie dem Fenstersitzen, bin ich beim Ausbruch der Seuche in Panik geraten, geradezu kopflos habe ich Hamsterkäufe gemacht. Während andere ihre Wohnung mit Toilettenpapier zugestellt haben, bin ich durch die Stadt gerannt und habe alle verfügbaren Puzzles aufgekauft. Für solche existentielle Krisen, ja regelrechte kriegsähnliche Zustände habe ich mir schon vor langer Zeit Rücklagen aus der Abfindung infolge meiner früheren Tätigkeit als IT-Sicherheitsexperte bei einem DAX-Unternehmen gebildet. Jetzt habe ich diese Rücklagen dafür gut einsetzen können. Sie haben mich gerettet, ich wüsste nicht, was ohne diese Rücklagen geworden wäre.
Das Fenstersitzen und das Puzzeln bedingen sich gegenseitig. Wenn ich einmal im Fenstersitzen einen schlechten Tag habe – gemessen an meinem eigenen hohen Anspruch –, dann bin ich am Abend auch nicht sehr erfolgreich beim Puzzeln. Umgekehrt genauso: Komme ich am Abend nicht in einen meditativen Fluss beim Puzzeln, dann kann ich den tagsüber entstandenen Stress nicht restlos abbauen und bin dann auch am nächsten Tag nicht in bester Form beim Fenstersitzen. Im Grunde sind Fenstersitzen und Puzzeln als geistige, als Zen-artige Tätigkeiten eng miteinander verwandt. Deshalb bin ich meinem Wesen nach ein Konzentrationsarbeiter, der rund um die Uhr im Einsatz ist. Natürlich habe ich beim Puzzeln keinerlei Leistungsdruck. Wenn es mir gefällt, lasse ich das 10000-Teile-Puzzle einfach ruhen, sollte ich hier einmal ins Stocken geraten und partout nicht mehr weiterkommen, und kümmere mich entspannt um ein kleineres 2000-Teile-Puzzle, da bin ich vollkommen frei, da redet mir keiner etwas rein.
Um Schäden an meiner Persönlichkeit, die durch die aufreibende Tätigkeit am Fensterbrett durchaus im Bereich des Möglichen liegen, zu vermeiden, bin ich sehr auf das Puzzeln als eine Form der Meditation und Katharsis angewiesen. Es ist zum Erhalt meiner geistigen Gesundheit überlebensnotwendig geworden. Aus diesem Grund habe ich gleich zu Beginn der Seuche aus einem unguten Gefühl heraus besagte Hamsterkäufe gemacht. Die Angst, dass plötzlich alle Puzzles ausverkauft wären, hat mich in der Nacht vor meinem ersten Hamsterkauf nicht zur Ruhe kommen lassen. Schon als wir erst bei sechs Infektionen waren, irgendwo in einem Werk in Bayern, habe ich mich auf die Jagd nach Puzzles gemacht. Zuerst nur online, doch um einen sofortigen Erfolg zu verbuchen, habe ich auch alle halbwegs anspruchsvollen Puzzles in Kaufhäusern und Spielwarengeschäften aufgekauft. Manchmal konnte ich dabei echte Schnäppchen machen und eines der seltenen 10000-Teile-Puzzles ergattern. Schon vor der Seuche hatte ich viele Puzzles gehortet, aber jetzt habe ich mir wahrhaft üppige Puzzlevorräte anlegen können. In meiner Schrankwand und im Keller sind insgesamt 349 Puzzles verstaut. Das sind ausreichend viele, um etwa zwei Jahre lang überleben zu können. Wenn ich bedenke, dass ich für ein größeres Puzzle, sagen wir 5000 Teile, circa zwei Tage brauche, dann könnte ich mit dieser Bevorratung gut und gern zwei Jahre über die Runden kommen. Nach der Seuche werde ich wieder mehr Zeit auf das Puzzeln verwenden können, dann werden diese Vorräte für mich Gold wert sein. Dann wird sich meine Vorratshaltung auszahlen. Spätestens im Mai wird es kein einziges Puzzle mehr zu kaufen geben, denn Millionen von Kurzarbeitern wird gar nichts anderes übrigbleiben, als zu puzzeln. Wenn dann alle anderen in höchster Not im Juni oder spätestens Juli anfangen, ihre drei fertigen Puzzles zu zerstören, und verzweifelt versuchen, aus drei zusammengeworfenen 500-Teile-Puzzles drei Bilder zu erstellen, dann werde ich ganz entspannt ein frisches 10000-Teile-Puzzle aus dem Schrank holen und mit großer Freude Teilchen für Teilchen zusammenfügen.
Seit Jahren habe ich sogar die Insel Mainau im Schrank. Dieses Puzzle gibt es schon lange nicht mehr im Handel. Ich habe es mir für eine besondere Gelegenheit aufgespart. Wahrscheinlich werde ich es öffnen, wenn hier der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, weil diese Isolationshaft-Amateure das Eingesperrtsein nicht mehr aushalten werden und Amok auf der Straße laufen. Sie werden herumbrüllen und Polizisten wie lungenkranke Schäferhunde anhusten. Mit offener Hose werden sie durch die Gasse rennen, weil sie verrückt geworden sind unter der Last des Zusammenlebens in der Familie. Weil sie fast die Kinder erwürgt hätten, in deren Köpfe es nicht hineingehen wollte, was der Lehrer online von ihnen erwartet hatte. Weil die Ehefrau einen schweren Putzwahn entwickelt hat und sofort herumkreischt, wenn eines der Kinder das Erdbeereis auf den Teppich fallen lässt. Weil nackte Panik ausbricht, sobald nur noch dreißig Rollen Toilettenpapier im Bad verfügbar sind. Weil der Ehemann dann genötigt wird, zum 80 Kilometer entfernten Globus zu fahren, um nach Toilettenpapier zu fahnden, und er eine halbe Tagesreise auf sich nehmen muss, um dann mit einer armseligen 2er-Packung nach Hause zu kommen und