Hermann von Kramm reiste unterdessen nach Brüssel. Sein belgischer Vertriebspartner war vor vielen Jahren bei den Fremdenlegionären in Afrika gewesen und verfügte noch immer über die besten Verbindungen. Er zögerte nicht, sie für seinen deutschen Freund zu aktivieren und heuerte Männer an, die Anweisung bekamen, Hermanns Enkel gewaltfrei an sich zu nehmen, um ihn dann einer französischen Amme zu übergeben, die das Kind stillen und mit ihm nach München reisen sollte. Wenn Franz seinen Sohn nicht herausgeben würde, brauchten die Männer aber auch nicht zimperlich zu sein. Insgeheim hoffte von Kramm, dass sein Schwiegersohn die Begegnung mit den Fremdenlegionären nicht überleben würde. Er hatte nicht das Bedürfnis, ihn noch einmal wieder zu sehen.
5
Sie waren zu dritt. Alles, was sie hatten, um das Kind zu finden, war der Brief von Franz, in einer französischen Über-setzung. Sie verfügten über Wüsten-Erfahrung, und die Tuar-eg zu finden stellte sie vor keine großen Schwierigkeiten. Aber seit dem Auftauchen der französischen Soldaten hatte Kou-mamá seinen Leuten besondere Aufmerksamkeit verordnet, und so stellten seine Männer die drei Fremdenlegionäre bereits eine halbe Wegstunde vor dem Lager zur Rede. Was wollten sie hier in dieser abgelegenen Gegend? Der Anführer des Trios, ein muskulöser, gedrungener Enddreißiger, zügelte sein schlankes Pferd, das beim Anblick der Kamele unruhig wurde. Guillaumes Hemd war perfekt gebügelt, das képi blanc, das seinen Stoppelschnitt bedeckte, leuchtete wie Schnee in der Sonne. Der Akzent verriet seine belgische Herkunft.
»Wir suchen einen Europäer«, sagte er. »Einen deutschen Mann mit einem kleinen Baby.«
Die Tuareg behaupteten, keinen solchen Mann gesehen zu haben. Mit dieser Antwort hatte Guillaume gerechnet. Die Kerle würden ihm sicher keine Information geben, ohne etwas dafür zu bekommen. Er bot ihnen eine ansehnliche Geldsumme, die er im Verlauf des Gespräches noch dreimal erhöhte, aber die Tuareg versicherten weiterhin, ihm leider nicht helfen zu können.
Als Guillaume und seine Begleiter noch am gleichen Tag in Koumamás Lager ritten, hatte Fatou Franz und das Baby längst in ihrem Zelt versteckt. Ohne lange zu fragen hatte sie dem Vater sein Kind in die Arme gelegt. Der kleine Leo sah ihn an und reckte ihm die winzige Hand entgegen. Ob er wollte oder nicht: Franz musste lächeln. Er legte zwei Finger in die Hand seines Sohnes und sah zu, wie die winzige Hand sich darum zu schließen versuchte.
Koumamá trat den Besuchern entgegen. »Ich habe von einem solchen Mann gehört«, sagte er. »Man sagte mir, er habe bei einem Stamm der kel ajjer gewohnt, nordwestlich von hier. Seine Frau soll bei der Geburt eines Kindes gestorben sein.«
»Das ist der, den wir suchen«, erwiderte Guillaume.
»Was wollt ihr von ihm?«
»Er interessiert uns nicht. Wir wollen das Kind.«
»Wieso?«
»Familienangelegenheit.«
Koumamá blickte auf Guillaume hinunter, der einen halben Kopf kleiner war als er. »Ihr kommt zu spät«, sagte er. »Der Mann hat in Agadez eine Handvoll Männer angeworben und ist mit seinem Kind unterwegs nach Norden. Er will zurück nach Europa.«
Guillaume musterte Koumamá und fragte sich, ob er dem Stammesführer trauen konnte. »Wie lange ist das her?«
Koumamá zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur nebenbei davon gehört.«
»Deine Männer, warum haben sie nichts davon gewusst?«
»Woher soll ich das wissen?« antwortete Koumamá.
Franz saß in Fatous Zelt, mit seinem Kind auf dem Arm, und konnte fast jedes Wort verstehen. Er hatte sich schon gefragt, ob er sich den Fremdenlegionären einfach zeigen und mit ihnen abreisen sollte. Aber nun war er froh, hier verborgen zu sein. Der kleine Leo verzog unglücklich das Gesicht und machte ein leises Geräusch des Unbehagens.
»Scht«, machte Fatou leise, und ihr Blick verriet Besorgnis. Im nächsten Moment fing der Kleine an zu schreien, und Franz versuchte flüsternd, ihm Einhalt zu gebieten.
»Was ist das für ein Baby?« Guillaume legte die Hand auf den Griff seines Gewehrs. Seine tiefe Stimme wurde scharf. »Ihr habt es versteckt, nicht wahr?«
»Das haben wir nicht«, behauptete Koumamá. In einigen umliegenden Zelten wurden lautlos takubas aus ihren Scheiden gezogen. Im nächsten Moment trat Fatou hervor, mit Dafinah auf dem Arm, die sofort anfing zu schreien, weil ihr das Sonnenlicht in den Augen weh tat. »Darf ich vorstellen?« sagte Koumamá. »Meine Tochter. Sie bekommt ihren ersten Zahn und schreit Tag und Nacht.«
Im Zelt hielt Franz seinem Sohn den Mund zu. Leos Gesicht war schon ganz rot. Er starrte seinen Vater an, als müsse er gleich ersticken.
»Tut mir leid«, flüsterte Franz.
Nachdem die Fremdenlegionäre sich zurückgezogen hatten, wusste Franz, dass sein Schwiegervater den Brief bekommen und Maßnahmen getroffen hatte, seinen Enkel nach Deutschland bringen zu lassen. Auf die Anwesenheit von Franz legte er dagegen offensichtlich keinen Wert. Was sollte er nun tun? Was würde passieren, wenn er mit dem Kleinen zurück nach Hause kam? Hermann hasste ihn dafür, dass Luise gestorben war, daran gab es keinen Zweifel. Einen Kampf um Leo würde Franz vermutlich verlieren, entweder vor Gericht oder durch Gewalt.
»Was würde Luise wollen?« fragte Fatou.
»Die Frage«, antwortete Franz, »ist doch viel mehr: Was ist das Beste für Leo? Ein Leben mit seinem Vater? In der Wüste? Auf der Flucht? Oder ein behütetes Leben bei seinem reichen Schwiegervater, mit einer sicheren Zukunft als Erbe eines Millionen-Unternehmens? Verdammt, ich weiß, was Luise sagen würde - aber sie hat nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen!«
Löwen in der Sahara
1
Zwischen den ledernen Einbänden befanden sich mehr als tausend Blätter Papier, die meisten davon doppelseitig und sehr eng mit der Schreibmaschine beschrieben. Aber vor einiger Zeit waren Franz die Farbbänder ausgegangen, und seitdem schrieb er mit der Hand. Seit fast vier Jahren war kein einziger Tag vergangen, an dem er nicht an seinem Werk gearbeitet hatte. Zurzeit lagerte Koumamás Stamm etwa drei Viertel einer Kamelstunde von ihm entfernt, aber Franz hatte trotzdem oft Besuch. Meistens war es Koumamá selbst, der kam, um das letzte Schachspiel fortzusetzen und mich mit kleinen Geschenken zu erfreuen. Ich ärgerte gerade eine der Ziegen meines Vaters, indem ich versuchte, auf ihr zu reiten - was damit endete, dass ich abgeworfen wurde und mich lachend im Sand wälzte. Koumamá hatte Franz eine französische Zeitung mitgebracht, die er auf dem Markt in Agadez erstanden hatte.
»Dein Land hat eine neue Regierung.«
Franz schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Zeitung ist eine Fälschung. Du nimmst mich auf den Arm.« Aber sie war echt. Franz hatte diesen Hitler vor ein paar Jahren gesehen, als er in einer Schwabinger Kneipe eine Rede geschwungen hatte. Wenn man das, was diese merkwürdige Erscheinung von sich gegeben hatte, überhaupt eine Rede hatte nennen können. Mehr denn je war Franz froh, nicht in Deutschland zu sein.
»Wie gefällt sie dir?« fragte Koumamá.
Franz lächelte. »Die Zeitung?«
Koumamá verdrehte die Augen. »Du weißt, wen ich meine.«
Franz blickte zur Seite, wo Zara damit beschäftigt war, Wäsche auf die Leine zu hängen. Die junge targia war seit ein paar Monaten so etwas wie Franz‘ Haushälterin. Sie kochte und putzte, und vor allem kümmerte sie sich um mich. Fatou war eines Tages klar geworden: Vater und Sohn brauchten weibliche Unterstützung. Franz war ein miserabler