Wanderungen zum Fluss standen auf dem Programm und eine Fahrt zum Markt nach Annecy. Bei einer unserer wöchentlichen Discos geschah es dann. Ich bekam meinen ersten recht feuchten Kuss von einem sechzehnjährigen Franzosen mit dem Namen Jean-Paul.
Er sah so welterfahren aus, mit seinen wuscheligen braunen Haaren und dem offenen Lachen, dass mir der feuchte Kuss fast gar nichts ausmachte. Noch nie war ich einem Jungen so nahe gewesen. Endlich konnte ich mitreden.
Auch bei unserem Ruderclub schienen mich die Jungs neuerdings zu bemerken.
Ein Jahr zuvor hatte mich ein Mädchen aus meiner Klasse gefragt, ob ich nicht ihrem Ruderclub am Rheinhafen beitreten wolle. Meine Eltern waren darüber hocherfreut gewesen und zahlten anstandslos den geringen Jahresbeitrag. Ich bekam sogar ein Clubhemd und ein paar neue Sportschuhe.
“Sport wird dich von Dummheiten abhalten,” hatte Papa damals gesagt. “Mit Jungen zu flirten bringt nur Probleme mit sich.”
Ich hatte keine Ahnung wie man flirtete und war Jungs höchst selten begegnet. Aber ein Jahr später war ich auf einmal nicht mehr unsichtbar.
Dann kam alles noch besser. Ich durfte zu meiner Dinosaurier-Oma Bertrand ziehen. Sie lebte jetzt in ihrer eigenen Welt, voll verstorbener Verwandter und den faszinierenden Leben berühmter Stars und Adeliger, die Frauenzeitschriften und das Fernsehen bevölkerten. Wir lebten in getrennten Welten, aber das machte nichts.
Ein billiger Radiorecorder, den ich zum Geburtstag bekommen hatte, wurde zu meinem Verbündeten. Ich beeilte mich von der Schule nach Hause zu kommen, um in der winzigen Küche den Beginn des ‘Pop Shop’ auf Rundfunk 3 nicht zu verpassen. Es gab eine Stunde lang Musikhits aus den sechziger Jahren, die ich auf billige Kassetten aufnahm. Das war meine Welt. Die Musik umgab mich für den Rest des Tages wie ein unsichtbarer Kokon.
‘Ha, ha said the Clown’, ‘Bridge over Troubled Water’ und ‘Ticket to Ride’. Ich sang meine Lieblingslieder, als ich so am Nachmittag mit dem Fahrrad zum Ruderclub radelte. Ich sang richtig laut, wenn ich wusste, dass niemand zuhörte.
Der Ruderclub am Rheinhafen war mein zweitliebster Zufluchtsort, gleich nach dem Schlosspark. Es roch oft komisch dort. Der Geruch kam von einer Mayonnaisenfabrik, aber ich gewöhnte mich daran. Mir gefielen die elegant auf dem Wasser dahingleitenden Ruderboote und die Ruhe dort. Manchmal skullte ich an Entenfamilien vorbei und manchmal musste ich den Wellen, die die Schiffe verursachten, ausweichen.
Ich war schrecklich schüchtern und wurde rot, wenn mich jemand auch nur anschaute. Meine Wirkung auf Jungs blieb mir trotz der Erfahrung mit Jean-Paul schleierhaft.
Bei einer Club-Party wurde mir Werner vorgestellt. Werner war schlank und hochgewachsen und zwanzig. Es störte ihn nicht, dass ich rot wurde, sobald er mich ansprach. Er küsste mit erfahrenen Lippen und hörte sich geduldig meine verzagten Geschichten über Schule und Eltern und nervige Schwestern an.
“Warum heißt du eigentlich Isabell,” wollte er wissen. “Ist das nicht französisch?”
Ich fand es toll, dass er sich für meinen Namen interessierte.
“Ja, mein Vater stammt von Hugenotten ab. Angeblich haben sie mich nach einer Großtante genannt. Meine Schwestern haben ihre Namen auch von Großtanten: Evelyn und Paula. Eine ziemlich große Familie auf beiden Seiten.”
“Eine große Großtanten-Familie,” scherzte Werner.
“Ha, genau,” lachte ich unbeschwert. “Isabell ist aber immer noch besser als Irene. Meine Mutter wollte mich erst so nennen. Hast du eigentlich Geschwister?”
“Ja, einen Bruder, Dieter. Der ist viel älter als ich. Wir kennen uns kaum…”
Werner wurde mein bester Freund und nach einer Weile hörte sogar das Rotwerden auf. Wir radelten zum blühenden Stadtpark und standen stundenlang an sonnigen Straßenecken herum, lehnten uns an unsere Fahrräder und unterhielten uns über anspruchsvolle Dinge.
Ich vertraute Werner genug, um ihm von Dr. Albrecht zu erzählen. Er fand es erstaunlich, dass eine derartige Therapie schon empfohlen wurde.
“Dieser Dr. Albrecht ist seiner Zeit weit voraus. Hypnose!” staunte er. “Aber er scheint ja Erfolg zu haben. Von einem psychologischen Standpunkt aus leidet deine Mutter wahrscheinlich an manisch-depressivem Verhalten,” erklärte er mir, als wir mal wieder auf einem niedrigen Gartenmäuerchen saßen.
Werner liebte es zu fachsimpeln. Er war nämlich Medizinstudent und wusste über solche Dinge Bescheid. Andere Jungs spielten Fußball und schwärmten für die Bay City Rollers - und mein Freund studierte Medizin. Werner wollte sich später mal auf Psychiatrie spezialisieren. Ein richtiger Experte.
“Gibt es denn nichts was man dagegen tun kann?” fragte ich.
“Deine Mutter bekommt doch sicher Medikamente, oder?”
“Ich denke schon. Sie spricht nie darüber.”
“Typisch. Das muss schwierig sein für dich.”
“Sie hat mir schon oft gesagt, dass ich nicht normal bin und dass sie die einzige normale Person ist, die sie kennt. Sie will immer alle kontrollieren.”
“Oh je! Da stimmt ja so einiges nicht.”
“Ich hab’ mich dran gewöhnt.”
“Lass dich nur nicht unterkriegen.”
“Werd’ ich schon nicht. Ich sehe sie nicht mehr so oft, jetzt wo ich bei meiner Oma wohne und zum Ruderclub gehe.”
Nach solchen Diskussionen schwangen wir uns wieder auf unsere Räder und fuhren zum Park und küssten uns an einem stillen, dunklen Ort. Dann waren die Ferien zu Ende und Werner musste an seine Universität in Ghent zurück.
Ghent war in Belgien. Ich war verzweifelt. Warum musste ich nur so jung sein? Fünfzehn! Ich war zu jung, um nach Belgien zu reisen und Werner zu besuchen. Verdammt! Zudem war meine Mutter sauer auf mich. Ihre Freundin Magda hatte uns zusammen gesehen. Wie wir auf der Straße Händchen hielten.
“Was habe ich dir über Jungs gesagt?” konfrontierte sie mich heftig.
“Jungs? Dass sie alle nur das eine wollen?”
“Musst du immer so vulgär sein? Keine Männerbekanntschaften bis nach der Ausbildung. Denk an deinen guten Ruf. Was sollen denn die Leute denken?”
Sie wollte wohl, dass ich mein Leben als traurige, alte Jungfer beendete. “Männerbekanntschaften? Ich bin erst fünfzehn und hab’ noch gar keinen Ruf. Händchenhalten ist doch keinen scharlachroten Buchstaben wert.”
“Scharlach —? Was soll das schon wieder? Ich mein’ es doch nur gut mit dir.”
“Ja sicher,” sagte ich müde. “Du wirst dich freuen. Werner ist wieder in Belgien. Er studiert dort nämlich.”
“Er ist ein Student? Isabell, du bist fünfzehn!”
Ich schwieg dazu und ging lieber zu Oma Bertrand rüber. Eine Träne kullerte, dann noch eine. Ich vermisste Werner.
Mit der Zeit verschwand er aus meinem Bewusstsein, aber Gottseidank gab es da noch den guten Dr. Albrecht. Andere Teenager interessierten sich nur für so ’n öden Kram wie ‘Saturday Night Fever’ und Discos, zu enge Klamotten und Jungs. Nicht für sowas Interessantes wie Hypnose. Ok, für Jungs interessierte ich mich auch.
Ich wurde bald sechzehn und zuhause gab es anscheinend auch ohne mich Probleme. Evelyn wurde dafür bestraft, dass sie einen Jungen geküsst hatte. Sie beneidete mich um meine Unabhängigkeit, den Ruderclub und überhaupt um alles.
“Ich bin immer an allem schuld und du kriegst was du willst. Ich wünschte ich hätte deinen Mut!”
“Du vergisst wohl, wer hier das schwarze Schaf der Familie ist,” verteidigte