“Wirklich? Ich glaube das mit dem Karma kommt eher aus Indien.”
Wie auf Befehl kamen zwei Frauen in bunten Saris und Wintermänteln zur Tür herein geweht und brachten einen eisigen Luftzug mit. Sie sagten etwas zueinander. Ich starrte sie an. Ich verstand nichts. Die Tür schloss sich schnell wieder mit einem Klingeln und die beiden nahmen ihre breiten wollenen Schals ab. Die jüngere Frau lächelte mich an, dann stiegen die beiden die Treppe zur Galerie hinauf.
“Was?”
Doris hatte mich etwas gefragt. “Wie die wohl die Kälte in so dünnen Kleidern aushalten?”
“Weiß ich nicht. Mir ist auch kalt. Komm’, lass uns geh’n. Ich bin todmüde und draußen wird’s schon stockdunkel.” Ich zählte ein paar Münzen auf den Bistrotisch. “Oma Bertrand wird sich wundern, wo ich abgeblieben bin.”
Ich hatte das komische Lied bald wieder vergessen, und auch das Gefühl, dass die Trauerfeier anders hätte sein müssen. Zumindest nicht wegen des nicht vorhandenen Scheiterhaufens oder einer Prozession und so ’nem verrückten Zeug.
Nach der Beerdigung jammerte meine Mutter tagein und tagaus. Sie bekam Medikamente, aber ich hatte da so meine Zweifel an deren Wirksamkeit.
“Warum hat er mich auf der Welt allein gelassen? Wie konnte er mir so etwas antun?” jammerte sie. “Ich wünschte er hätte mich mitgenommen.”
“Wir sind doch auch noch da. Was sollten wir denn ohne dich tun?” fragte Evelyn traurig.
“Dass ihr immer nur an euch denkt! Versetze dich doch mal in meine Lage.”
Der Stich traf Evelyn. Ihr standen Tränen in den Augen. “Dann wälzt dich doch in deinem blöden Selbstmitleid,” sagte ich barsch. “Ändert sich doch sowieso kaum was bei dir.”
“Ich habe wirklich keine Nerven für dein schlechtes Benehmen, Isabell. Ach, warum hat er mich nicht mitgenommen. Jetzt muss ich mich allein mit euch dreien ‘rumplagen.”
Das war ihr voller Ernst. Meist bemerkte sie uns kaum und wir ließen sie in Ruhe.
Was sie auch nicht merkte war, wie Paula sich veränderte. Sie kam oft spät nach Hause, verkroch sich in ihr Bett, wollte mit niemandem reden. Die verwöhnte Paula schlug langsam über die Stränge. Im Krankenhaus hatte sie sich von Papa auf der Intensivstation nicht verabschieden dürfen, weil sie erst dreizehn war. Keine Ausnahmen. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Ich flüchtete zu Oma Bertrand.
Als alle Verwandten und Trauerkrähen wieder fortgezogen waren, knöpfte Mutti sich meine Dinosaurier-Oma vor. Es gab keinen Platz mehr für sie hier. Oma Bertrands wohlhabende Tochter Bertha kam am Monatsende und holte sie ab, als ich gerade in der Schule war.
Alles was ich wusste war, dass sie in der Nähe von Kassel wohnte. Unsere Fragen blieben unbeantwortet. Alles was wir erfuhren war, dass unsere Mutter ‘endgültig genug’ gehabt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste wieder zu meiner Mutter ziehen.
Evelyn rauchte jetzt Kette und zog bald zu ihrem Freund. Sie war achtzehn und sehr hübsch, aber es haperte mit dem Selbstbewusstsein. Trotz ihrer Intelligenz schaffte sie die Schule nicht mehr und ich sah, dass sie sich wieder die Arme mit Zigaretten verbrannte. Wir sahen uns nur noch selten.
Ich hatte Glück im Unglück und fand über die Pinnwand an der Universität ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Der Zettel hing direkt vor meiner Nase:
’30m2, Innenstadt, 120 Mark/ Monat warm. Tel.: 457 782’ Fantastisch. Ich rief die Nummer an.
“Das Zimmer ist noch zu haben,” sagte ein Physikstudent namens Ingmar. “Ein geräumiges Zimmer mit Waschbecken im vierten Stock. Da gibt es auch noch eine riesige Küche, die wir teilen und eine winzige Toilette. Manfred studiert Meteorologie und ist ziemlich ruhig.”
Ich radelte sofort hin. Ich wurde genommen.
Mein neuer Wohnplatz war auf der obersten Etage eines alten Bürgerhauses an einer der lautesten Hauptstraßen in Karlsruhe. Es war herrlich. Ich bemerkte den Lärm kaum. Die beiden Studenten waren vollkommen zuverlässig und konservativ. Kein bisschen Hippie.
Ingmar war ein schmächtiger Physikstudent im dritten Semester, mit dicker Brille und dickem Motorrad. Manfred war breit und langweilig, aber nett genug, das Telefon in seinem Zimmer mit mir zu teilen. Solange ich den Betrag zahlte, den er jeden Monat haarklein ausrechnete.
Auf einmal hatte ich zwei große Brüder. Wer brauchte schon doofe Schwestern, wenn man zwei große Brüder haben konnte?
Ich war gerade mal siebzehn, aber meine Mutter hatte nichts gegen die Wohngemeinschaft einzuwenden. Ich war endlich frei und fühlte mich schrecklich erwachsen.
Die bescheidene Waisenrente, die ich erhielt, reichte gerade für die Miete und etwas Essen aus. Was ich durch Latein-Nachhilfestunden mit Fünftklässlern verdiente, ging für Bücher und Kleidung drauf. Einmal wöchentlich wusch ich Wäsche bei meiner Mutter. Meist, wenn sie nicht da war. Es ging.
Trotz des stinkenden Ölofens neben dem Waschbecken und dem leckenden Dach, genoss ich ungestörte Ruhe. Ich konnte zu Partys gehen oder Renate bei mir übernachten lassen oder studieren oder Musik hören oder alleine sein, ganz wie es mir gefiel. Nach einer Weile verstummte sogar die kritische mütterliche Stimme in meinem Kopf. Endlich durfte ich meine eigenen Gedanken denken.
Nach ein paar Wochen herrlichen Freiseins erfuhr ich, dass meine jüngste Schwester Paula sich in gefährlichen Kreisen herumtrieb. Sie begann Drogen zu nehmen. Mit dreizehn. Zwar war sie noch zu jung, um auszuziehen, aber sie tat was ihr passte.
Unsere Mutter hatte keine Ahnung davon und als sie sich impulsiv entschied, die erste Auszahlung der Lebensversicherung in einer Mittelmeerkreuzfahrt anzulegen, war Paula begeistert.
Drei Wochen sturmfreie Bude!
Ich tat mein bestes, sie unter Kontrolle zu halten, aber Paula war starrköpfig und sah keinen Grund darin, mir zu erklären, wo sie nachts wieder gewesen war. Sie glitt mir immer wieder durch die Finger.
“Mit wem hängst du schon wieder ‘rum?”
“Lass’ mich zufrieden, Isabell. Du bist stinklangweilig,” gab sie zur Antwort. “Du hast gut reden. Isabell der Rebell.”
Ich versuchte an ihren Kleidern zu riechen. Der süßliche Rauch sprach Bände. “Geht dich ‘n Furz an. Du bist nicht meine Mutter.”
“Ja, Gottseisgebimmelt! Gehst du heute Abend wieder in den ‘Omnibus Club’?” fragte ich und sah zu, wie Paula Müsli in sich hineinschlürfte.
“Ja Ok, und zum ‘One Stop Café’. Wieso?”
“Weil ich das wissen muss. Du bist erst dreizehn.”
“Aber ich sehe viel älter aus. Sagt jeder. Hans denkt ich sollte Fotomodel werden.” Hans war ihr neuester Freund und mindestens 18.
“Versuch’ doch mal dein Gehirn anzustrengen, Paula. Ein Model mit dreizehn? Was weiß Hans denn schon von sowas?”
“Er hat mich diesem Kerl vorgestellt. Der ist Fotograf und will Bilder von mir machen und sogar dafür bezahlen.”
“Hast du noch alle Tassen im Schrank? Hast du Mutti davon erzählt? Du wirst auf keinen Fall zu irgendeinem Fotografen gehen, der dich bezahlen will, verstanden?!” Ich keuchte hilflos und hatte absolut keine Ahnung, wie ich sie davon abhalten sollte.
“Ach ja? Du kannst ja mal versuchen mich zu stoppen, Mami.”
Paula ging natürlich zu dem Fotografen. Und der gab ihr Kokain. Das war alles, was sie mir erzählte.
“Sag’ Mutti nichts davon oder du bist schuld wenn sie einen Herzinfarkt bekommt,” quakte sie am nächsten Tag. Ihre Augen waren verheult.
“Du hast verdammt Recht, ich werde