»Siehst du, Melissa, das ist nicht der richtige Ort für die Prozedur!« Ich höre Stephens Worte, aber ihre Bedeutung sickert nicht bis zu meinem Verstand durch. Ich bin beseelt von dem Gedanken, mich aus der Situation zu befreien.
In meiner Panik beiße ich in die Hand von 75-2, der mich in seinem eisernen Griff am Arm hält. Er schreit kurz auf und lässt los, aber er packt schneller wieder zu, als ich um mich schlagen kann.
»Sie hat mich gebissen!«
»Sie ist wahnsinnig!« Melissa stellt das Tablett mit der Nadel und dem Serum neben sich, außerhalb meiner Reichweite. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als darauf herumzutrampeln, kann mich aber keinen Zoll weit von der Stelle bewegen. Ich spüre, wie mir Speichel am Kinn hinab läuft. Ich knurre wie ein Tier, was sich sogar in meinen eigenen Ohren furchterregend anhört. Ich will leben! Weshalb versteht das niemand?
Dann fährt mir ein scharfer Schmerz durch Mark und Bein, ich sehe Sterne vor meinen Augen tanzen. Meine Wange brennt wie Feuer. Jemand hat mir ins Gesicht geschlagen.
»Bringt sie auf die Krankenstation«, höre ich Melissa rufen. Nur am Rande nehme ich wahr, dass sich inzwischen auch alle anderen Labormitarbeiter um uns geschart haben.
Stephen greift um meine Taille und wirft mich in einer schwungvollen Bewegung über seine Schulter. Ich trete weiterhin um mich. Wieder schlägt mir jemand ins Gesicht. Es ist 75-2, der hinter Stephen geht und ihm aus dem Labor hinaus folgt. Auch Melissa schließt sich an, zuvor nimmt sie das Tablett wieder auf und trägt es hinter uns her.
Es geht wieder mehrere Flure entlang, aber ich schaffe es nicht, mir den Weg einzuprägen. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu winden und zu kreischen, bis ich nass geschwitzt und völlig entkräftet bin. Tränen der Verzweiflung tropfen von meinem Kinn auf Stephens Rücken, der immerwährend vor sich hin flucht und Melissa anfährt, weshalb sie mich nicht sofort in ein Krankenzimmer hat bringen lassen.
Irgendwann bleibt Stephen stehen. Ich höre, wie er seine Plastikkarte durch den Apparat zieht und ein leises Piepen ertönt, ehe eine Tür aufschwingt.
Wir betreten einen Raum, der genauso kahl und steril ist wie das Labor. Er ist winzig, gerade so lang wie die Krankenliege, die an einer Wand steht. Zu meiner Angst vor der Verwandlung gesellt sich nun Platzangst. Vier Personen in diesem engen Raum! Außer der Liege gibt es nichts, das ich durch mein wildes Gestrampel hätte zerstören können, und mir drängt sich der Verdacht auf, dass genau das der Grund ist, weshalb sie mich ausgerechnet hierher gebracht haben.
»Drückt sie nieder«, presst Melissa hervor. Ihr Tonfall lässt nun jede Art von Freundlichkeit missen. Die beiden Männer tun, wie ihnen geheißen und pressen meine Arme und Beine auf den kühlen Untergrund der Liege. 75-2 reißt meinen Ärmel nach oben und ich sehe an ihm vorbei, wie Melissa die klare Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf eine Spritze aufzieht, ehe sie mit der Nadel auf mich zukommt.
»Halt still«, sagt sie, aber ich denke gar nicht daran. Soll sie mit dem Ding fünfhundert Mal daneben stechen. Ich fürchte mich nicht vor dem Schmerz. Ich bewege den Arm im Rahmen meiner Möglichkeiten. 75-2 kann ihn nicht so fest nach unten drücken, dass ich ihn nicht trotzdem minimal drehen kann. Es reicht, damit Melissa die Vene nicht findet.
»Hör auf damit!«, schnauzt mich Stephen nun an, der meine Beine festhält. »Was versprichst du dir davon? Du kannst es nicht verhindern.«
Ich will es nicht wahrhaben und spucke Melissa ins Gesicht. Sie weicht zurück und hätte beinahe die Kanüle fallen gelassen.
»Es reicht!«, schreit sie. »Ich hole Betäubungsgas. Haltet sie derweil fest!« Mit diesen Worten springt sie auf und stürmt wieder zur Tür hinaus.
75-2 und Stephen fixieren mich weiterhin, aber ich wehre mich nicht mehr. Ich möchte meine Kräfte für den Ernstfall schonen. Mein Herz hämmert so heftig gegen meine Rippen, dass es weh tut. In meinem Gesicht kleben verschwitzte Locken, aber ich kann sie mir nicht zurückstreichen, weil ich beide Arme nicht bewegen kann. Ich kneife die Augen fest zusammen. Ich möchte nicht gezwungen werden, in das Gesicht von 75-2 zu sehen, während er mich festhält.
»Hast du den Verstand verloren?«, fragt er mich, aber ich antworte nicht.
»Sie ist völlig verrückt. Unmöglich, dass sie ausgewählt wurde. So etwas habe ich noch nie erlebt! Wir sollten Mr. Hampton Bescheid sagen. Er wird sie entsorgen lassen.« Die Abneigung in Stephens Stimme ruft unbändigen Hass in mir hervor. Entsorgen lassen! Wollen sie mich töten? Diese gefühlskalten Monster, beraubt jeder Menschlichkeit? Sie sind schlimmer als die Acrai. Töten werden sie mich doch ohnehin, wenn sie mir dieses Zeug verabreichen! Ich habe nie zuvor mehr Ekel und Missbilligung empfunden als in diesem Moment.
Dann kehrt Melissa zurück. Ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt des Raumes, weil 75-2 direkt neben der Liege steht und mein Sichtfeld einschränkt, aber ich kann erkennen, dass sie einen Apparat herein trägt, etwa so lang und breit wie eine Elle und mit einem Griff am oberen Ende, um ihn zu transportieren. An der Seite ist ein Schlauch, der in einen trichterförmigen Gegenstand mündet. Melissa betätigt einen Schalter. Das Teil fängt daraufhin an zu brummen.
Meine Lebensgeister erwachen wieder, erneut will ich um mich treten, doch meine Beine bewegen sich kein Stück. Als Melissa sich mit dem Trichter meinem Gesicht nähert, werfe ich den Kopf wild hin und her, aber ich kann nicht verhindern, dass sie ihn mir auf Mund und Nase drückt. Kurz halte ich die Luft an, aber mein kräftezehrendes Verhalten lässt meinen Körper binnen Sekunden nach Atemluft lechzen, sodass ich wohl oder übel einatmen muss. Es riecht nach nichts, und einen Augenblick lang wundere ich mich darüber, dass nichts passiert. Aber dann verschwimmt meine Umgebung zunehmend, mein Blick irrt durch die aufziehenden Nebelschwaden an 75-2 vorbei an die gegenüberliegende Wand. Ich sehe keine Konturen mehr, meine Muskeln entspannen und meine Wahrnehmung löst sich in Schwärze auf.
***
Mein Verstand schält sich nur langsam aus der wohligen Decke der Benommenheit. Ich träume. Von warmer Junisonne auf meiner Haut, von lachenden Menschen und Wind, der meine Haare zersaust. Vor mir liegt ein weites Feld, auf dem struppiges braunes Gras wächst, so weit das Auge reicht. Eine tote und verlassene Gegend, und dennoch fühle ich mich befreit. Es riecht nach Erde, die herrlichen Gerüche, die Sommerregen auf ausgedörrtem Boden hervorlockt. Ich bin nicht in Manhattan. Dies ist die Freiheit.
Etwas stört meine Glückseligkeit. Ich friere. Etwas kaltes ist an meinem Rücken. Im nächsten Moment blendet mich grelles Licht. Ich möchte mich zurück in meinen Traum flüchten, aber die Realität holt mich mit großen Schritten ein. Ich liege auf einem harten Untergrund, aber unter meinem Kopf ist es weich. Ich spüre, dass eine dünne Decke meinen Körper bedeckt. Ich möchte die Augen öffnen, aber es fällt mir unendlich schwer, als hätte sie jemand zusammen geklebt. Ich würde lieber wieder in den Schlaf hineingleiten, aber das ist unmöglich. Mit einem Mal schlägt mein Herz wieder schneller. Ich öffne die Augenlider zu schmalen Schlitzen. Das weiße Licht treibt mir Tränen in die Augen. Ich zwinge mich dennoch dazu, den Kopf zu drehen und die Augen zur Gänze zu öffnen. Ein scharfer Schmerz fährt mir unter die Schädeldecke.
Ich zittere vor Kälte. Mein Kreislauf kommt nicht in Schwung. Langsam schärft sich das Bild, ich befinde mich in einem Raum, den ich nicht kenne. Außer meiner Liege, die nicht so bequem ist wie ein Bett, gibt es hier nichts. Kein Fenster, und von meinem Standort aus kann ich auch keine Tür sehen. Ich sehe nur eine nackte weiße Wand. Zu hören ist nichts außer meine eigenen flachen Atemzüge.
Mir gelingt es, den Kopf ein wenig zu heben. Über mir hat jemand ein weißes Laken ausgebreitet, aber es wärmt mich nicht. Was ist passiert? Wo bin ich?
Ich wünschte, ich hätte nicht darüber nachgedacht, denn wie ein Messer schießen Erinnerungen in meinen Kopf. Man hat mich festgehalten und mir einen Apparat auf Mund und Nase gedrückt.
Das Serum! Herrje, sie haben mir dieses todbringende Zeug in den Blutkreislauf gepumpt! Ich konnte es nicht verhindern.
Angestrengt versuche ich, eine Veränderung in mir zu spüren. Fühle ich mich anders als zuvor?