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der Arbeitslosen", das aber keinen besonderen Eindruck auf die jungen Soldaten machte. Ich habe mir den Text dagegen immer sehr genau angehört, weil ich hier einen Zusammenhang zu den Erzählungen meines Vaters über seine Arbeitslosenzeit fand.

      "Keenen Sechser in der Tasche, bloß´n Stempelschein

      durch die Löcher der Kleedaasche kiekt die Sonne rein

      Mensch so stehste vor der Umwelt, jänzlich ohne was

      Wenn dein Leichnam plötzlich umfällt, wird keen Ooge naß".

      Auf der anderen Seite sang Ernst Busch das "Lied der Bergarbeiter". Die getragene Melodie stand im Kontrast zum unsentimentalen Berliner Jargon des Textes. Mein Vater fand bei den meisten Soldaten kein Interesse für seine Platten. Einigen legte er die "Internationale" auf. Die schüttelten die Köpfe, machten Tanzbewegungen und lachten. Der Ukrainer hörte zu, die Lieder schienen ihm etwas zu bedeuten. Einer soll nach Jazz gefragt haben, erzählte mein Vater später. Ich habe das nicht gehört und kann es nicht bezeugen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es stimmt, denn mein Vater neigte dazu, alle diese Dinge anekdotisch auszuschmücken.

      Meinem Vater gelang es, bis zum Kommandanten vorzudringen, der in der Villa der Späthschen Baumschule residierte. Er brachte Beschwerden der Einwohner gegen die Plünderungen und Vergewaltigungen vor und erreichte, dass ein sowjetischer Offizier zu uns kam und auf dem Vereins- und Spielplatz zu den Bewohnern der umliegenden Laubenkolonien sprach. Er kam mit einem Dolmetscher, der den Leuten sagte, dass die Rote Armee nicht gekommen sei, um sich zu rächen. Das, was geschehen war, bezeichnete er als Übergriffe, die es auch in ihren Reihen gäbe. Sie würden unnachsichtig bestraft werden, versprach er. Ich kann mich an diese Situation genau erinnern, weil ich ihr mein erstes Fahrrad zu danken habe. Noch während der Offizier sprach, kam ein Soldat den Laubenweg entlang geradelt, der auf den Spielplatz zuführte. Er übte freihändig fahren, fasste aber schnell nach dem Lenker, als er den Offizier inmitten des Menschenauflaufs erblickte. Der ließ ihn stoppen und führte einen kurzen, schnellen Wortwechsel mit ihm. Dann gab er ihn in die Obacht eines anderen Soldaten. Der führte ihn an die Pappwand unseres Vereinshauses und ließ ihn dort mit erhobenen Händen und zur Wand gedrehtem Gesicht bis zum Ende der Rede stehen. Als der Offizier mit seiner Rede geendet hatte, wandte er sich an meinen Vater und übergab ihm das Fahrrad. Vom Dolmetscher erfuhr mein Vater, dass es bei uns sichergestellt werden sollte und in Kürze abgeholt werden würde. Dann zog die kleine Kolonne ab, der Radfahrer bildete mit dem Wachsoldaten das Schlusslicht. Ich schaute ihm nach und bedrängte meine Eltern mit der Frage, was aus ihm würde. Sie konnten mir keine Antwort geben, aber ihren Andeutungen konnte ich entnehmen, dass er nichts Gutes zu gewärtigen hatte. Er tat mir leid, weil er mir einen so fröhlichen Eindruck gemacht hatte, als er, die Arme ausgebreitet, angefahren kam. Es war allerdings nur ein ganz flüchtiges Empfinden, das von Neugierde über sein weiteres Schicksal überdeckt war. Aber vor allem freute ich mich darüber, dass wir wieder ein Fahrrad hatten. Denn mein Vater hatte sein Fahrrad auf ganz ähnliche Weise verloren, und das Rad meiner Mutter stand ohne Bereifung im Schuppen. Als es noch fahrtüchtig war, hatte ich darauf mehrmals geübt, obwohl es ein Herrenrad war und ich die Pedalen nur erreichte, wenn ich das Bein unter die Vorderstange hindurchschob. Das ergab dann das sogenannte Pfeffermalen, wie sich mein Vater ausdrückte. Es muss sehr komisch ausgesehen haben. Natürlich brannte ich darauf, meine Fahrkünste zu vervollkommnen. Aber trotz intensiven Bettelns und Bittens durfte ich das Fahrrad nicht anrühren. Es stand in unserem Schuppen neben dem kaputten Rad, und ich schaute es sehnsüchtig an. "Es gehört uns nicht. Es ist hier nur sichergestellt und wird abgeholt”, war die wiederkehrende Auskunft meines Vaters auf all mein Drängen und Bitten. Meine Mutter zuckte nur die Achseln und bekräftigte: "Hörst doch, hör' auf zu drängeln." So blieb es lange.

      Es war ähnlich wie mit den Radios, die auf Geheiß der Besatzungsmacht aus allen Haushalten eingesammelt werden mussten und dann in der Vereinslaube auf einem großen Haufen lagen. Meine Eltern waren sehr traurig, dass sie ihren für damalige Verhältnisse guten Apparat abgeben mussten. Denn er hatte ihnen für das Hören von "Feindsendern" gedient, von denen sie erfuhren, wie es an den Kriegsschauplätzen wirklich bestellt war. Von deren Empfang war ich natürlich ausgeschlossen gewesen. Ich hatte den Eindruck, dass wir das Radio damals nur brauchten, um die Nachricht über den nächsten Luftangriff mitzubekommen. Deshalb teilte ich ihren Kummer nicht, noch dazu sie diese Maßnahme sowieso als Teil der notwendigen Wiedergutmachung für den durch die deutsche Wehrmacht angerichteten Schaden akzeptierten. Die Radios lagen wochenlang in der Vereinslaube herum und warteten auf ihren Abtransport. Dann hieß es plötzlich, sie sollten von den Leuten nach Britz, der für uns damals zuständigen Verwaltung gebracht werden. Dieses Ansinnen war meinem Vater nun schon zu viel. Er meinte: "Es kann ja nicht jeder selber seinen Apparat nach Russland tragen." Nachdem noch einige Zeit vergangen war, sagte mein Vater den Leuten, dass sie ihre Radios wieder abholen sollten.

      Das Fahrrad stand gewiss nicht länger als acht Wochen in unserem Schuppen. Aber noch in der Erinnerung erscheint mir diese Zeit endlos. Als ich es plötzlich nehmen durfte, war es immer noch Sommer, allenfalls Frühherbst. "Sie haben es vergessen", sagte mein Vater zur Erklärung seines Sinneswandels. Allerdings wurde der Gebrauch des Fahrrads streng kontingentiert. Ich durfte nur im näheren Umkreis unserer Behausung fahren und das auch nur nach ausdrücklicher Erlaubnis durch meine Eltern. Denn es gehörte uns allen und nicht mir, obwohl es nur selten benutzt wurde. Ich erinnere mich an ein einziges Mal, dass mein Vater mit dem Fahrrad nach Johannisthal fuhr, weil wir in den ersten Monaten nach dem Krieg nur dorthin ohne Schwierigkeiten kamen. Er kehrte ohne das Rad zurück. Seinem Bericht war zu entnehmen, dass ein sowjetischer Militärlastwagen gehalten, mehrere Soldaten hinten abgesprungen waren und ihn zum Absteigen aufgefordert hatten. Sie warfen das Fahrrad auf den Lastwagen und fuhren ab. Irgendwie war ich von meinem Vater enttäuscht, dass er es so einfach hingegeben hatte.

      Bisher hatte ich ihn immer als furchtlosen Mann erlebt, der, zierlich und klein von Wuchs, aber zäh und gewandt, auch wilden Soldaten entgegentrat und uns vor mancher Unannehmlichkeit bewahrte. Daher hatte sich in mir das Gefühl verfestigt, dass uns eigentlich nichts passieren könnte. Es war die kindliche Gewissheit, Glück zu haben, in mir entstanden. Diese Vorstellung bekam durch das Abhandenkommen des Rades einen Riss. Ich verstand nicht, dass mein Vater sich nicht gewehrt hatte. Es wunderte mich, ich fragte meine Mutter, ob er vielleicht doch feige sei. Sie schüttelte den Kopf, ihren Augen sah ich an, dass sie mich unverschämt fand. Es fehlten ihr die Worte für diesen Augenblick, und ich spürte, dass es nicht gut war, darauf zurückzukommen. Meinem Vater gegenüber schon gar nicht. Er bekam dann seine blitzenden Augen, die ich fürchtete.

      Bald darauf machte ich eine Erfahrung mit mir, die mich ahnen ließ, wie meinem Vater zumute war, als ihm das Fahrrad weggenommen wurde. Es war an einem Oktobertag des Jahres 1945, als ich mit meiner Mutter nach Britz unterwegs war. Wir gehörten damals, nachdem die westlichen Alliierten im August 1945 nach Berlin gekommen waren, zum amerikanischen Sektor. Unsere Lebensmittelkarten mussten wir aus Britz holen und nicht mehr wie bisher aus Johannisthal, wo wir ohne Schwierigkeiten hinkamen, weil man dorthin keinen Kanal queren musste. Von allen angrenzenden Bezirken war Britz am schwersten zu erreichen. Nach Baumschulenweg kamen wir über die zwar gesprengte, aber noch schief im Wasser liegende Brücke, über die wir kriechen mussten. Neukölln war auf direktem Wege überhaupt nicht zu erreichen, sieht man vom zeitweiligen Fährverkehr an der Straße 6 ab. Auch die Brücke über den Teltowkanal, die die Späthstraße in Richtung Britz überquerte, war zerstört. Es gab nur eine Möglichkeit, den Teltowkanal zu überwinden, der mit unserem Stichkanal in Höhe der Grenzallee zusammenfließt. Dort gab es eine Brücke für die Treidelbahn. Sie fuhr an dieser Stelle über zwei hohe Brücken. Der eine Brückenbogen überspannte den Stichkanal in Richtung Westen und der andere den Teltowkanal in Richtung Süden. Gegen Ende des Krieges fuhr sie immer seltener, nach dem Krieg wurde sie völlig stillgelegt, nur die schmalen Gleise lagen noch an den Ufern. Über die schmalen Brücken mit den Schienen mussten wir, um nach Britz zu gelangen.

      Mit meiner Mutter und mir ging Lina, eine Frau, die damals für einige Monate bei uns wohnte, weil sie nicht wusste, wohin. Da sie später niemals wieder in meinem Gesichtskreis aufgetaucht ist, habe ich nur eine ganz blasse Erinnerung an sie. Wir machten uns auf den Weg, für Hin- und Rückweg wurde jeweils eine Stunde veranschlagt. Beide Frauen ahnten nicht, was uns erwartete,