"Die Stunde des Jaguars". Jens Petersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Petersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742770639
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Wolken brach immer wieder Mondlicht hervor, beleuchtete die Seiten der großen Sonnenpyramide rechts gegenüber und ließ jetzt deren Schlangenköpfe erkennen.

      Doch dieser Blick wurde abrupt versperrt durch eine neu hinzutretende, dunkle Gestalt, ähnlich den vier Ungepflegten, so penetrant riechenden. Nur die Augen waren noch starrer. Reicher Kopfschmuck aus Federn umgab das unbewegte Gesicht. Alle anderen sah David ehrfurchtsvoll zur Seite treten, außer denen, die seine Glieder weiterhin fest umklammert niederdrückten. Der Neue musste wohl so etwas wie der Oberpriester sein. Ganz nahe herangetreten, erhob er sich wie eine Statue direkt über Dave, die herrischen Gesichtszüge im bleichen Mondlicht erstarrt. Pathetisch begann er einen Text zu rezitieren, in einer Sprache die Dave noch nie gehört hatte. Ihm fiel nur die mehrfache Wiederholung ganzer Passagen auf.

      (Ist es die magische Wirkung dieser Worte, die mich lähmt oder ist es die immer mehr in meinen Körper herein kriechende Kälte?)

      Als die Rezitation geendet hatte, und Dave sich gerade fragte, was nun wohl noch kommen könnte, oder ob damit das mittlerweile doch recht willkommene Ende der Performance erreicht sei, riss der mit einer raschen Bewegung Daves Hemd auf. Sodann drückte er mit der linken Hand schwer auf seine Brust und erhob mit der Rechten ein Obsidianmesser.

      Schlagartig brach für Dave die ganze Konstruktion abenteuerlicher Fantasien zusammen. Betäubende Erkenntnis überfiel ihn, die ganze Zeit einer Illusion aufgesessen zu sein. Unfassbar, was im Sekundenbruchteil das Bewusstsein überfliegen kann. Alle diese Bilder tauchten vor Dave auf, von den Tausenden Geschlachteter auf den Opfersteinen der Tempel. Wie ihnen die Brust mit dem Obsidianmesser aufgeschnitten wurde, das Herz herausgerissen, um es den Göttern zu darzubieten und die noch zuckenden Leichname die steile Pyramide hinunter gestoßen wurden.

      Nur kurz sträubte er sich noch die Realität wahrzunehmen, bevor lähmendes Grauen ihn überwältigte.

      „Neiiin!!!“

      Konnte er gerade noch schreien, bevor ihm eine Hand den Mund zudrückte und alles schwarz wurde.

      Wie flackernd schob sich eine vage Einblendung kurz in sein Bewusstsein. Er war wieder, oder noch immer in der Hütte. Aber nicht vor dem Tisch und dem Obsidianstein sitzend sondern auf der Matte am Boden liegend. Beißender Rauch umgab ihn dort. Viel zu groß und zu nah über ihm war dieses Gesicht, das einer steinernen Statue, einer sehr alten, gemeißelt in vorkolumbianischer Zeit. Es war auch das Gesicht Juans, und doch war es etwas ganz anderes.

      Entschieden zu kurz und bruchstückhaft war diese Vision, um sich deutlich zu manifestieren, bevor ihn wieder die völlige Schwärze verschlang.

      Das Erste was er sah, als er wieder zu sich kam und versuchte sich zu orientieren, war immer noch das bleiche Gesicht des Oberpriesters. Über ihn gebeugt starrten diese stechenden Augen ihn nach wie vor an. Nur schien der sich inzwischen umgezogen zu haben. Denn er trug jetzt ein langes schwarzes Gewand, ähnlich einem Talar. Das auffallende Federgebilde auf seinem Kopf musste er abgelegt haben. Auch die Anderen, soviel konnte Dave in dem wechselhaft beleuchteten, düsteren Ambiente feststellen, hatten ihre Jaguar- und Adlerkostüme abgelegt. Einige trugen dunkelbraune Kutten, die mit einem einfachen Strick um die Taille gerafft wurden. Die Restlichen hatten nur eine grobe Hose an übersäht mit dunklen Flecken. Darüber war der schwitzende, freie Oberkörper.

      Ebenfalls die Umgebung, fiel ihm jetzt auf, hatte sich verändert. Weder die Sonnenpyramide rechts gegenüber war auszumachen, noch eine Mondpyramide, auf deren Spitze mit dem gewölbten Stein er gelegen hatte. Jetzt fühlte er eine gerade, hölzerne Platte unter seinem Rücken, wahrscheinlich eine Art Tisch oder Kasten. Auch die Kälte des harten Steins war gewichen. Dennoch war ihm übel und er zitterte am ganzen Körper. Als wüsste dieser mehr über das, was bevorstand.

      (Ich muss lange bewusstlos gewesen sein, denn ich hab‘ gar nicht gemerkt, dass man mich irgendwohin getragen hat.)

      Er lag hier nicht mehr unter freiem Himmel, keine Wolken waren mehr über ihm, zwischen denen gelegentlich ein fahler Mond hervorragte. Soweit das flackernde Licht der Fackeln es erlaubte, vermochte er die Wände eher erahnen als genau sehen. Bizarre Gegenstände konnte er darauf ausmachen, vermutlich eine Art ihm unbekannter Werkzeuge. Über sich gewahrte er eine gewölbte Decke. Die Schwärzungen darauf stammten wahrscheinlich vom Ruß der Fackeln. Alles was von denen beleuchtet wurde erschien grellrot und flackernd, der Rest verschwand im Dunkel. Nur dieser unangenehme, penetrante Geruch war noch immer da und bedrängte die Nase.

      Auch wenn der Schock des ersten Augenblicks sich etwas gelöst hatte, das Grauen war unvermindert geblieben. Völlige Ungewissheit, wo er hier war, und was das alles zu bedeuten hätte, ließen ihn allein in hilflosem Entsetzen. Sein ziellos umherirrendes Bewusstsein suchte verzweifelt nach irgendeinem Haltepunkt.

      „Du gibst also zu, diesem Teufelskult gedient zu haben?“

      Fuhr ihn die schneidende Stimme des Oberpriesters an. Er trat erneut heran, und sein ausgemergeltes Gesicht beugte sich mit seinen unangenehmen Ausdünstungen aufdringlich über Dave. Auch die Anderen näherten sich in gespannter Erwartung des Kommenden.

      „Ist es nicht so?“

      Dave verstand überhaupt nichts mehr.

      „Gestehe!“

      Insistierte wieder der Oberpriester, so als könnten seine Worte sich in Dave hineinbohren.

      „Wir werden ohnehin die Wahrheit aus dir herausholen.“

      Erneut hatte Dave diese kurze Einblendung, in der er auf dem Boden der Hütte lag.

      Über sich das steinerne, antike Gesicht mit den Zügen Juans. Viel zu kurz, wie ein Aufflackern der Fackeln erschien es.

      Umgehend wurde diese Vision wieder verdrängt durch das vorherige, eindringlich fordernde Gesicht über ihm und die abschätzigen Mienen der Gaffer ringsherum.

      Nur langsam dämmerte es Dave, was der überhaupt meinte.

      „Nein, aber nein, ich sollte vielmehr geopfert werden!“

      „Du gibst also zu, an diesem vermaledeiten, heidnischen Treiben beteiligt gewesen zu sein?“

      „Nein! Ich war das Opfer. Ich sagte doch, man wollte mich opfern! Man hat mich gezwungen dazu!“

      Wenigstens erhob sich jetzt das aus dem schwarzen Talar herausgestülpte Gesicht, und mit ihm entfernten sich die unangenehmen Ausdünstungen. Aber dann verkündete es salbungsvoll:

      „Mit diesem Geständnis ist unserer heiligen Pflicht Genüge getan.“

      (Von was für einem Geständnis redet der da?)

      Zu Dave gewandt:

      „Du hast noch die Gelegenheit während der Stunden der Nacht in dich zu gehen und deine Sünden zu bereuen. Reinigen jedoch, kann dich nur das Feuer des Scheiterhaufens am folgenden Morgen. Nutze also diese Zeit mit Gebeten und Übungen der Buße.

      Er nickte den Männern zu, deren Schweiß im Lichte der Fackeln auf den nackten Oberkörpern speckig glänzte. Mit resoluten Griffen packten sie Dave, zerrten ihn von dannen und warfen ihn angewidert wie von einem Stück Unrat in die vergitterte Zelle. Das Letzte, was er noch hörte, bevor ihm wieder die Sinne schwanden, waren die Worte des Inquisitors:

      „Wir werden für deine Seele beten.“

      Als er wieder zu sich kam, lag er erneut auf dem gleichen Tisch, scheinbar in der gleichen Umgebung. Aber nein, die Decke war jetzt nicht mehr gewölbt und zeigte keinerlei Rußspuren. Sie war glatt, hell und weiß. Überhaupt war jetzt alles heller beleuchtet, und Fackeln waren nirgends auszumachen. Vor sich bemerkte er das schon allzu bekannte, ausgezehrte Gesicht des Oberpriesters. Statt des schwarzen Talars trug der nun eine Uniform.

      „Jetzt kommt er endlich wieder zu sich“,

      verkündete der den Umstehenden, die auch alle Uniformen anhatten, nur mit weniger Goldquasten und Orden versehen als die des Oberpriesters.

      „Es sah schon so aus, als hättet ihr ihn ein wenig zu hart rangenommen. Fehlte nicht

      viel