Die Erdmännlein. Heinz Gellert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz Gellert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776969
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der Großvater, „etwa so weit, wie du geworfen hast, ist Franz damals gekommen, dann konnte er an keiner Stelle mehr stehen. Er kehrte deshalb um und fragte mich nach einem Strick. Damit wollte er zur Insel schwimmen und ihn der Kuh um den Hals binden. Weil er glaubte, dass sie rüber geschwommen sei, wollte er sie so ins Wasser ziehen …“

      „Können denn Kühe schwimmen?“, unterbrach Tim ihn.

      „Ja, mein Junge“, antwortete der Großvater nachdenklich, „das kann ich dir nicht sagen. Ich hab´ noch keine Kuh schwimmen geseh´n. Und die auf der Insel tat es auch nicht. Aber lass mich weiter erzählen:

      Weil kein Strick auf der Weide aufzutreiben war, auch bei den Hirten nicht, lief ich nach Hause und holte mir vom Vater einen. Mein Vater kam gleich mit zur Weide. Na jedenfalls, mein Bruder versuchte sein Glück, schwamm mit dem Strick zur Insel, aber das blöde Vieh von Kuh wollte sich nicht ins Wasser ziehen lassen. Störrisch wie ein Esel war sie. Da halfen auch keine Schläge aufs Hinterteil. Franz rief meinem Vater von der Insel zu, er solle mit dem Knecht das Angelboot herbeiholen, das ein ganzes Stück entfernt am Ufer auf Land gezogen war. Gott sei Dank! lagen die Ruder drinnen.

      Die beiden ruderten also zur Insel. Aber das hätten sie sich gleich denken können! Der Kahn war viel zu klein und zu schmal, und die Kuh viel zu schwer. Als mein Vater und Franz versuchten, der eine durch Ziehen, der andere mit einem Stock schlagend, die Kuh ins Boot zu bekommen, wär´ es beinahe abgesoffen.

      Da half nichts! Die Kuh musste auf der Insel bleiben. Ich bin dann noch ein paar Tage lang, zweimal täglich, mit dem Boot zur Insel gerudert, habe die Kuh versorgt und gemolken. Während dieser Zeit haben die Knechte des Bauern ein Floß gebaut, um sie damit von der Insel zurückzuholen. Aber daraus wurde nichts mehr; denn eines Morgens war die Kuh nicht mehr da.“

      „Ist sie ertrunken?“, fragte Tim.

      „Ich glaub´ nicht“, meinte der Großvater. „Dann hätte man die Tierleiche irgendwo im See gefunden. Ich glaub´ eher, sie wurde gestohlen.“

      „Wie denn gestohlen?“, fragte Tim erstaunt.

      „Was weiß ich!“, antwortete der Großvater. „Vielleicht hat irgendwer sie geschlachtet. Vielleicht hatte man auch in der Nacht das Floß dazu benutzt, um sie von der Insel zu holen. Es war ja fast fertig und lag hier am Ufer. Jedenfalls erzählte man sich allerlei im Dorf darüber. So mancher Verdacht fiel auf diesen oder jenen armen Schlucker.“

      Der Großvater klopfte seine Pfeife auf einem Stein aus und erhob sich. Dann sagte er noch: „Deine Oma ist allerdings anderer Meinung. Aber das lass dir von ihr erzähl´n!“ Er wollte gehen.

      „Ach Opa!“, bat Tim und zog ihn am Ärmel, wollte ihn so am Weggehen hindern. „Opa, du kannst mir doch sagen, was Oma darüber denkt.“

      „Nee, Junge“, wehrte er ab, „das frag´ sie mal selbst. Ich halte von solchen Ammenmärchen nichts. Und nun komm! Wir geh´n jetzt. Es ist Abendbrotzeit.“

      Sie gingen den Feldweg entlang an der Koppel vorbei.

      „Ist das später noch mal passiert?“, wandte sich Tim an den Großvater. „Ich meine … ist wieder mal ´ne Kuh auf der Insel gewesen?“

      „Wie ich weiß … nein“, antwortete er. „Aber verschwunden ist ab und zu schon mal so ´n Rindvieh. Weggelaufen oder gestohlen. Das kommt vor.“

      Tim betrachtete die weidenden Kühe auf der Koppel und fragte: „Wer treibt denn heute die Tiere von der Weide? Machen das die Jungs aus dem Dorf?“

      „Bei dem schönen Wetter im Sommer“, antwortete der Großvater, „bleiben sie auf der Weide.“

      „Auch nachts?“, wunderte sich Tim.

      „Auch nachts.“

      „Und wer passt auf?“, fragte Tim interessiert.

      „Keiner! Dafür haben wir hier doch den Zaun.“ Der Großvater trat an den Zaun heran. „Das ist ein Elektrozaun“, erklärte er. „Durch den Draht fließt Strom. Wenn die Tiere daran kommen, kriegen sie einen leichten Stromschlag, den sie als Schreck oder Schmerz empfinden, und laufen weg. Das merken sich die Kühe, und darum respektier´n sie den Zaun und kommen nicht in dessen Nähe.“

      „Kann man den Draht auch anfassen?“, wollte Tim wissen.

      „Versuch´s doch! Dann weißt du´s", antwortete der Großvater.

      Tim hielt seine Hand über den Draht, zögerte aber, ihn zu berühren, da er den listigen Blick des Großvaters bemerkte.

      „Ach, der Draht ist so schmutzig“, meinte Tim und zog die Hand wieder zurück.

      „Na ja, wenn er schmutzig ist“, stimmte der Großvater ihm zu, „dann sollte man ihn auch nicht anfassen. Außerdem ist er ja für die Kühe da, und denen macht der Schmutz verständlicherweise nichts aus.“

      Das hatte Tim nun davon. Er fühlte sich von seinem Großvater verkohlt. Doch anfassen würde er den Draht schon noch, aber nur, wenn keiner zusah.

      Als sie am großen Koppeltor vorbeikamen, wollte der Großvater Tim noch den Melkstand im Rinderstall zeigen. Doch dann entschied er sich, dass Tim sich den am nächsten Tag von seinem Onkel Bernhard genauer zeigen und erklären lassen sollte.

      3. Die Erdmännlein und der Tischlergeselle

      Als die Großmutter abends Tim zu Bett brachte, berichtete er ihr, was der Großvater ihm auf der Weide erzählt hatte, und er wollte natürlich ihre Meinung dazu wissen. Besonders interessierte ihn, was der Großvater für ein Ammenmärchen gemeint hatte.

      „Ammenmärchen!“, sagte die Großmutter erbost. „Dein Opa hält immer nur das für richtig, was er für richtig hält. So ist der alte Döskopp eben. Aber glaub´ mir, Tim! Wenn dein Opa auch nichts davon hören will, ich sage dir, das mit der Kuh, das waren damals die Erdmännlein."

      „Was für Erdmännlein?“, unterbrach Tim sie.

      „Nun … wenn du´s genau wissen willst“, erklärte sie, „dann sind es kleine Zwerge, die in Höhlen unter der Erde leben. Sagt man jedenfalls.“

      „Zwerge … unter der Erde?“, fragte Tim und sah sie verblüfft an.

      „Ja, Zwerge“, antwortete die Großmutter. „Früher hat man viel von ihnen gesprochen. Als Kind habe ich Geschichten über sie von meiner Mutter und besonders von meiner Großmutter erzählt bekommen. Darin haben die Erdmännlein oft Schabernack mit den Menschen getrieben. Trotzdem waren sie nicht böse. Den Armen haben sie Geschenke gemacht. Guten Menschen halfen sie in der Not. Aber böse Menschen, habgierige und geizige, bestraften sie. Die einen bekamen Gold, die anderen glühende Kohlen oder Dreck.

      An eine Geschichte kann ich mich noch heute gut erinnern. Vielleicht deshalb, weil sie in unsrem Dorf passiert sein soll.“

      „Ach Oma, erzähl´ sie mir bitte!“ Tim schaute sie erwartungsvoll an.

      „Na gut“, sagte sie. „Aber das ist schon so lange her, dass ich sie jemandem erzählt habe. Hoffentlich bekomme ich sie noch zusammen. Also hör´ zu:

      Vor vielen Jahren im Sommer kam einmal ein Tischlergeselle ins Dorf. Der war auf der Wanderschaft und hatte sich hier bei einem Bauern verdingt … also als Gehilfe beworben, um für Unterkunft und Essen ihm ein paar Dinge für Haus und Hof zu bauen. Wagenräder, Schemel, Schränke … was man eben auf einem Bauernhof so alles braucht.

      Eines Abends nun war der Geselle vorm Dorf bei den Kornfeldern spazieren gegangen und hatte sich irgendwo am Wegrand auf einen großen Feldstein gesetzt. Die Sonne stand schon rot am Horizont, doch die Luft war noch mild. Drum zündete er sich seine Tabakspfeife an und hing seinen Gedanken nach. Und während er so an dieses und jenes dachte, zog ihn plötzlich so ein Erdmännlein am Hosenbein. Der Geselle staunte nicht wenig, als er den kleinen Kerl mit seinem Runzelgesicht, dem weißen langen Bart, einem spitzen roten Hut auf dem Kopf und