Die Erdmännlein. Heinz Gellert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz Gellert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776969
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Die beiden Torflügel des Zauns waren weit geöffnet. Onkel Bernhard fuhr auf den Hof und hielt vorm Hauseingang.

      Die Großmutter hatte das Motorengeräusch des Autos gehört und streckte den Kopf aus dem Küchenfenster. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und sie kam die Stufen der kleinen Steintreppe herunter gelaufen.

      „Tim … mein Junge!“, rief sie und breitete die Arme aus, um ihn an sich zu drücken.

      „Oma!“, mehr brachte Tim vor Freude nicht heraus. Er lief zu ihr und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Dann bekam sie noch einen zweiten Kuss zur Begrüßung von seinem Vater.

      Während sie Tim und den Vater ins Haus führte, rief die Großmutter, an den Großvater und Onkel Bernhard gerichtet: „Beeilt euch, das Essen ist fertig! Silke kommt auch gleich.“

      Beim Mittagessen saß Tim neben seiner Tante am Tisch. Sie arbeitete als Verkäuferin und weil der Laden über die Mittagszeit geschlossen hatte, kam sie immer zum Essen nach Hause. Sie würde bald ein Baby bekommen. Darum schaute er hin und wieder verstohlen nach ihrem dicken, runden Bauch. Dabei wünschte er sich, dass das Baby schon da sein würde, damit er mit ihm spielen könnte.

      2. Können Kühe schwimmen?

      Am Nachmittag, als Onkel Bernhard den Vater zurück zum Bahnhof fuhr und Tante Silke wieder in ihrer Verkaufsstelle arbeitete, gingen Tim und der Großvater im Dorf spazieren. Sie schauten sich auch die Tierställe an. Besonders der Kälberstall gefiel Tim, weil er die Kälbchen streicheln durfte und die gar keine Scheu vor ihm hatten. Eines sogar so keck war und an seinem Finger saugen wollte.

      Eine Stunde später saß er mit dem Großvater in der Nähe der Weidekoppel am Seeufer und blickte zur Insel, die nicht weit vom Ufer entfernt vor ihnen lag. Dabei erinnerte er sich an eine Geschichte, die der Großvater ihm auf Onkel Bernhards Hochzeit erzählt hatte, und er bat ihn, sie doch noch einmal zu erzählen.

      Der Großvater wollte erst nicht und meinte: „Ach, die alte Geschichte.“ Aber weil Tim nicht aufhörte zu betteln, ließ er sich überreden und begann mit seiner Erzählung:

      „Damals, als sich die Geschichte zugetragen hatte, war ich zwölf Jahre alt. Und wie schon den Sommer zuvor, musste ich auch in jenem Sommer als Kuhhirte beim Großbauern arbeiten. Wir waren vier Kinder zu Hause. Weil unser Vater nur wenig Land besaß, mussten auch wir Kinder mithelfen, etwas Geld zu verdienen. Der Älteste von uns, Franz, half unsrem Vater auf dem Hof. Meine Schwester, die Edeltraud, arbeitete als Magd im Nachbardorf. Ich war der Dritte. Und dann war da noch unsre kleine Schwester Anna.

      Als Kuhhirte trieb ich morgens, nach dem Melken, die Kühe aus dem Stall des Bauern auf die Weide und abends wieder zurück. Tagsüber lag ich im Gras, sah nach den Kühen, schaute auch mal bei den anderen Hirten vorbei. Alles Jungs aus dem Dorf, die auf eine mehr oder minder große Herde von Rindern oder Schafen aufpassten. Manchmal, wenn es sehr warm war, bin ich eingeschlafen. Wenn mich der Bauer dabei erwischte, gab es Ohrfeigen.“

      „Ohrfeigen?“, fragte Tim entsetzt. „Durfte der denn das?“

      „Ach, wenn´s nur Ohrfeigen waren“, antwortete der Großvater, „daran war ich gewöhnt. Die gab es auch in der Schule.“

      „In der Schule auch?“, Tim blickte ihn betroffen an.

      „Na, was denkst du! Unser Lehrer war darin nicht zimperlich.“ Der Großvater lachte dabei.

      Tim konnte das gar nicht fassen. Er fand es nicht zum Lachen.

      „Aber lassen wir das“, fuhr der Großvater fort. „Obwohl“, bemerkte er noch, „manchmal würde euch eine Ohrfeige auch nicht schaden, so wie ihr mit euren Lehrern umspringt.“

      Tim schwieg und dachte an seine Lehrerin. Er wusste, sie würde so etwas nicht tun.

      Der Großvater kramte in der Jackentasche nach Pfeife und Tabaksbeutel, stopfte sich gemächlich seine Pfeife und zündete sie mit dem Streichholz an. Während er die ersten Züge paffte, erzählte er weiter:

      „So hatte ich doch eines Abends tatsächlich den Rücktrieb der Kühe verschlafen. Als ich wach wurde, stand die Sonne fast am Horizont. Natürlich trieb ich meine Tiere rasch zusammen, beeilte mich, um so schnell wie möglich auf den Hof des Bauern zu kommen. Der wartete schon wütend auf mich, denn es war Zeit fürs Melken. Wie jeden Abend zählte er die Kühe. So genau weiß ich es nicht mehr, ob es nun zehn, fünfzehn oder noch mehr waren. Jedenfalls … er zählte, und es fehlte eine Kuh. In der Eile hatte ich auf der Weide ganz das Zählen vor dem Rücktrieb vergessen, was ich sonst immer tat. Es war zwar nicht nötig, denn bisher hatte nie eine Kuh gefehlt. Die Kühe liefen auch nicht weit weg, standen meistens beieinander und fraßen oder lagen im Gras und kauten dösend vor sich hin.

      Du kannst es dir ja vorstellen, Tim, der Bauer tobte wie ein Verrückter. Eine Ohrfeige gab´s natürlich auch. Und die war nicht von Pappe! Nachdem ich so meinen Teil wegbekommen hatte, jagte er mich auf die Weide zurück und schickte noch zwei Knechte mit, die mir beim Suchen helfen sollten. Obwohl es inzwischen schon ziemlich dunkel war, war es doch noch hell genug, um die Kuh sehen zu können, falls sie irgendwo im Gras liegen und vielleicht krank sein würde. Aber wir sahen keine.

      Nun konnte sie entweder in den Wald gelaufen sein.“ Der Großvater wies mit der Hand zum Wald und erklärte: „Das ist aber ein ganz schönes Stück Weg bis dahin, wie du, Tim, ja selbst erkennen kannst. Oder sie war aus Versehen von einem anderen Jungen mit seiner Herde zurückgetrieben worden. Die beiden Knechte und ich, wir suchten selbstverständlich auch im Wald nach der Kuh. Ergebnislos! Darauf gingen wir einzeln bei den Bauern im Dorf vorbei. Aber es war nirgends eine Kuh zu viel. Kurzum … die Kuh war weg!“

      „Und am nächsten Morgen“, bemerkte Tim und zeigte mit der Hand auf den See, „am nächsten Morgen hast du sie dann auf der Insel dort entdeckt.“

      „Ja“, bestätigte der Großvater, „am nächsten Morgen.“ Er paffte ein paar Wölkchen aus der Pfeife in die Luft und erzählte weiter:

      „Ich wollte am liebsten gar nicht mehr beim Bauern arbeiten. Aber mein Vater … dein Urgroßvater, Tim … war damit nicht einverstanden. Ich musste also zu ihm hingehen. Mein Bruder Franz kam mit mir. Mein Vater wollte, dass er den Wald nach der Kuh durchkämmen sollte. Auch der Bauer schickte nochmals einen Knecht los.

      Glaub mir, Tim, mein Vater war trotzdem gut zu mir; er machte sich aber große Sorgen. Denn wäre die Kuh nicht wieder aufgetaucht, hätte er eine von unsren sechs Kühen, die wir nur besaßen, dem Bauern als Ersatz geben müssen.

      Also die Insel …" Der Großvater paffte wieder an der Pfeife und überlegte einen Moment. „Ja“, sagte er danach, „so war es an dem Tag!

      Es war Vormittag. Ich war noch nicht lange mit den Kühen auf der Weide, und mein Bruder und der Knecht hatten fast den Wald erreicht. Da sah ich die Kuh dort zwischen den beiden knorrigen Weiden“ - er zeigte mit der Hand zur Insel – „seelenruhig Gras fressen. Ich konnte es erst gar nicht fassen, dachte, ich träume, aber sie war es wirklich. Ich lief zum Ufer, schrie nach meinem Bruder und zeigte immer wieder zur Insel. ‚Da ist sie! Die Kuh ist auf der Insel’, rief ich. ‚Franz, komm zurück!’ Mein Bruder hatte mich zuerst wohl nicht richtig verstanden, kam dann aber mit dem Knecht angerannt. Und beide staunten nicht wenig, als sie das sahen, was ich sah … die Kuh nämlich. Die ließ sich überhaupt nicht von meinem Geschrei stören, fraß seelenruhig weiter.

      Tim, glaub´ mir, hätte ich sie nicht entdeckt, keiner von uns wäre auf die Idee gekommen, dort nach der Kuh zu suchen. Noch nie zuvor war eines der Tiere ins Wasser gelaufen … nicht mal zum Saufen. Das taten sie aus einem Wassergraben, der sich quer durch die Weide hinzog. Wir überlegten, was wir machen sollten. Franz vermutete, dass irgendwo im Wasser eine flache Stelle war, durch die die Kuh zur Insel gelangt sein konnte. Er zog sich darum bis auf die Unterhose aus, stieg ins Wasser und tastete mit den Füßen den Grund am Seeufer ab. Dabei ging er immer tiefer in den See hinein.“

      Der Großvater sammelte einen Stein vom Uferrand auf und warf ihn in Richtung der Insel.