»Vor Jahren«, erzählte mir Rainer einmal, »kam eine junge Notärztin an die Unglücksstelle. Plötzlich rannte sie weg. Apathisch und kreidebleich fanden wir sie auf einem Rapsfeld wieder. Weißt du, warum sie weggerannt ist? Es war ihr eigener Mann, dessen Einzelteile dort unter dem Güterzug lagen. Der hatte sich aus Eifersucht das Leben genommen. Das Schlimme ist, dass er sich die Strecke und den Zeitpunkt extra ausgesucht hatte, weil er genau wusste, dass seine Frau zu diesem Zeitpunkt Notdienst haben und wahrscheinlich diejenige sein wird, die man zum Ort des Geschehens ruft. Ein schöner Abschied, nicht wahr?«
Bei solchen Geschichten stellen sich einem doch die Nackenhaare nach oben. Was Menschen sich und anderen alles antun, da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Solche Geschichten konnten mir in meinem neuen Zuhause, dem Forsthaus von Zhirow, egal sein. Hier hatte ich meine Ruhe vor eifersüchtigen Selbstmördern und Personenschäden im Gleisbett. Um mich herum entfaltete sich die pure Natur. Zurück aus Altstielitz stellte ich den Drahtesel gegen die rote Backsteinwand und trug meine Einkäufe in die Küche. Es wurde langsam dunkel. Drei Stunden hatte es mich gekostet, in der Stadt alles Nötige zu besorgen. Ich nahm ein altes Holzbrett von der Wand, schmierte mir ein Salamibrot, stellte den Küchenstuhl nach draußen, setzte mich und feierte die neue Freiheit mit einem Willkommensbier.
In Amt und Würden
Vor dem Forsthaus erstreckte sich eine wilde Wiese mit einem kleinen matschigen Teich in der Mitte. Dahinter lag ein großes Moor, das wiederum in den Zhirower See überging. Der Teich war Heimat unzähliger Moorfrösche. Die Amphibien befanden sich in der Balz. Das Gute an Moorfröschen ist, dass sie nicht lautstark um die Wette quaken, um bei den Weibchen Eindruck zu schinden. Anstatt zu lärmen, färben sich die Männchen im Frühjahr für kurze Zeit blau und buhlen mit der Pracht ihrer Farbe um die Gunst der auserwählten Fröschin. Nie zuvor hatte ich dieses Phänomen, das nur wenige Tage andauert, mit eigenen Augen beobachten können. Als die Sonne über die Wipfel der Bäume blinzelte, erstrahlte der gesamte Tümpel im typisch bläulich-violetten bis himmelblauen Moorfroschblau. Es war mein erster Arbeitstag. Erst gegen Mittag musste ich im Nationalparkamt erscheinen. Also schnappte ich meinen Fotoapparat und knipste wild auf meine balzenden Nachbarn los. Die Fotografie war eines meiner Hobbys. Fototechnisch war ich nicht die hellste Leuchte im Lampenladen, doch ich hatte den Blick für das Motiv. Der ist oft wichtiger als die richtige Belichtungszeit. Meine technischen Defizite glich meine vollautomatische Kamera problemlos aus.
Dank der Liebe zur Fotografie und meiner Arbeit in Burgstadt bekam ich den Zuschlag für das Praktikum. Das Nationalparkamt suchte einen Praktikanten für das SG ÖA - das Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit. Hierfür war ich genau der Richtige. Texte schreiben konnte ich und der Umgang mit der Presse, den Medien und der Öffentlichkeit stellte ebenfalls kein Problem dar. Die Zaster Bank Altstielitz, Partner des Nationalparks, sponserte seit einigen Jahren das Praktikum. Ich hätte den Job auch umsonst gemacht, doch so erhielt ich jeden Monat ein Gehalt von 500,- Euro, für einen Praktikanten nicht schlecht. Dazu noch die Wohnlage - fast könnte man meinen, ich wäre im Urlaub.
Nachdem ich das Balzverhalten der blauen Frösche digital für die Ewigkeit festgehalten hatte, ging ich mit nassen Füßen zurück ins Forsthaus und machte mir ein Pausenbrot für die erste Schicht. Nun musste ich mich beeilen, denn ich kannte den Weg zum Nationalparkamt noch nicht. Mit dem Fahrrad würde es sicher eine ganze Weile dauern, erst recht mit Hans‘ Klapperkiste. Das Amt lag ungefähr 20 Kilometer von meiner Position entfernt in einem Ort namens Bergwitz. Die Strecke musste ich von jetzt an zweimal pro Tag bestreiten - zum Nationalparkamt hin und wieder zurück ins Forsthaus. Eine Gesamtstrecke von 40 Kilometern, die sollte fithalten.
Im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer lag eine Wanderkarte, in der auch die alten Wege der Forstwirtschaft eingezeichnet waren. An denen orientierte ich mich. Ich nahm die Karte und ging aus dem Haus. In kurzen Hosen und mit Rucksack auf dem Rücken trat ich in die Pedale. Ich bin ein guter Radfahrer, doch mein klappriges Fortbewegungsmittel erschwerte mir das Vorankommen.
»Meine Güte«, dachte ich, »am Wochenende hole ich sofort mein eigenes Fahrrad hier her.«
Hans‘ Leihgabe in allen Ehren, aber hier musste ein richtiges Kettenfahrzeug an den Start, mit Gangschaltung. Der hüglige Weg nach Zhirow verlangte mir alles ab. Vereinzelte Betonplatten wechselten sich mit mal festerem, mal weicherem Wald- und Sandboden ab. Das ging in die Beine. Doch so schwer der Weg, so schön das Drumherum. Ich kam mir vor wie in einem grünen Tunnel. Kathedralengleich überdachten beeindruckende Rotbuchen den Weg. Unzählige Sonnenstrahlen durchbrachen das frisch grünende Dach des Waldes wie Scheinwerfer. Ein märchenhafter Moment. Das Licht fiel auf ein Meer von weiß- und gelbblühenden Buschwindröschen. Diese umbetteten alte moosbewachsene Baumstämme. In diesem Augenblick war ich mir sicher, mit dem Antritt meines Praktikums alles richtig gemacht zu haben. So etwas kann man mit keinem Geld der Welt bezahlen. Die Natur zog mich mit ihrer Schönheit in den Bann. Unterbrochen wurde dieser bezaubernde Buchenhain nur von einigen riesigen Douglasien, die sich am Wegesrand kerzengerade in den Himmel bohrten. Aus den Stämmen der Nadelbäume wurden früher die Masten großer Schiffe gebaut. Fasziniert nach oben blickend, bemerkte ich nicht, dass vor mir gerade eine Bache dabei war, ihren niedlichen Frischlingen die Welt zu zeigen. Ebenso wenig achtete die Wildschweinfamilie auf mich. Erst als die kleinen Schweinchen verängstigt quickten und sich Schutz suchend neben mir auf den Waldboden drückten, registrierte ich die Ferkelbande. Die Mutter befand sich glücklicherweise einige Meter entfernt. Sie grunzte tief und laut. Schnell sprangen die Frischlinge auf und suchten eiligst das Weite. Das Fahrrad und ich lagen im Sand. Durch ein beherztes Brems- und Fallmanöver hatten wir uns direkt in die waagerechte Position begeben. Beinah wäre es zu einem blutigen Wildunfall zwischen Drahtesel und Schwein gekommen, doch so konnten sich alle Beteiligten unversehrt an die Verrichtung ihres Tagwerks machen. Hier draußen galten keine Verkehrsregeln und Vorfahrtsschilder gab es nicht.
Kurz vor Zhirow änderte sich das Bild. Der nahezu unberührte Buchenwald wandelte sich in einen Forst aus gepflanzten Kiefern. In Reih und Glied standen die Nadelbäume mit ihren dünnen Stämmchen nebeneinander. Viele halten das für echten Wald. Sie finden es sogar schön, weil alles so ordentlich aussieht und man dort unbeschwert Pilze sammeln kann. Doch echter Wald sieht anders aus. Den hatte ich gerade verlassen. Kiefernforste sind reine Nutzwälder. Witterungs- und schädlingsanfällig, dienen solche Monokulturen der reinen Holzgewinnung. Hier im Nationalpark bildeten sie die Überreste einer alten Zeit. Nachdem das ganze Gebiet unter Schutz gestellt wurde, holzte man die Forste aus, um dem natürlichen Regenerationsprozess unter die Arme zu greifen. Irgendwann würden die jungen Buchen, die sich bereits mühsam durch die übriggebliebenen Kiefern nach oben kämpften, ihre Kronen ausbreiten und wieder die alleinige Herrschaft übernehmen.
Ich erreichte Zhirow und fuhr vorbei an Hans‘ Kaninchen und Bauer Albrechts Hühnern. Dann überquerte ich die einzige asphaltierte Straße, die Landstraße nach Altstielitz. Ich passierte das Dorf und schon ging es wieder in den Wald. Laut Karte musste ich immer nur geradeaus, über die Bahnschienen, einmal nach links und wieder nach rechts. Komischerweise gab es weitaus mehr Forstwege, als auf meiner Karte verzeichnet waren. Und so kam, was kommen musste. Nach einer zweistündigen Irrfahrt durch ein Labyrinth aus Waldstraßen erreichte ich Bergwitz - durchgeschwitzt und mit einiger Verspätung. Ausgerechnet am ersten Tag. Gekrönt wurde die Odyssee kurz vor Erreichen des Nationalparkamtes