Dann nahm ich den klapprigen Drahtesel, verabschiedete mich und radelte los.
»Also, bis später Hans.«
»Ja, mach‘s gut Junge.«
Von Hans hatte ich bei meiner Ankunft den Schlüssel für die Praktikantenunterkunft abgeholt. Er war mein Ansprechpartner für alles Organisatorische.
»Wenn du etwas brauchst, komm einfach vorbei«, gab er mir mit auf den Weg, nachdem er mir mein neues Zuhause gezeigt hatte.
Mein Wohnsitz im Nationalpark war für mich das Paradies - das Forsthaus von Zhirow. Frisch restauriert und sogar mit einer stabilen Internetverbindung versehen, lag es inmitten eines urigen, uralten Buchenwaldes, der zwei Jahre zuvor von der UNESCO zum Weltnaturerbe deklariert wurde. Es befand sich direkt an der Grenze zur Kernzone des Nationalparks. Außer mir durfte dort niemand wohnen. Ein Privileg, das ich zu schätzen wusste. Von Zhirow aus führte ein fünf Kilometer langer Waldweg durch den Buchenhain zu meiner einsamen Behausung. Für alle motorisierten Fahrzeuge, die nicht zum Nationalparkamt gehörten, herrschte striktes Durchfahrverbot. Ich hatte zwei Tage Zeit, um mich häuslich einzurichten, bevor mein Dienst an der Umwelt offiziell beginnen sollte. Also radelte ich mit Hans‘ klapperndem Fahrgestell in die nahegelegene Kleinstadt Altstielitz. Dort wollte ich mich mit ausreichend Lebensmitteln eindecken. In Zhirow gab es nichts, keinen Bäcker, keinen Fleischer, keinen Supermarkt. Nur köstliche Eier und Kartoffeln von Bauer Albrecht, wie ich herausfand.
»Hallo, ich bin Jan aus Burgstadt, der neue Praktikant aus dem Forsthaus«, sagte ich, als sich die Tür des Bauernhauses öffnete.
Bauer Albrecht stand im Blaumann vor mir und antwortete gelassen: »Selbst schuld, was?«
»Ich habe gehört, hier gibt es die besten Eier in ganz Mecklenburg.«
»So, hast du also gehört. Das möchte wohl sein. Na dann komm mal mit nach hinten. Eine Packung ist noch da. Bist ein Glückspilz, würde ich sagen.«
Gemeinsam gingen wir auf den Hof.
»Albrecht, der junge Mann hier ist der neue Praktikant aus dem Forsthaus! Möchte Eier von uns!« rief Bauer Albrecht.
Moment! Irgendwas konnte hier nicht stimmen. Wenn der Kerl im Blaumann nicht Bauer Albrecht war, wer dann?
»Gut Giesela. Dann werde ich die mal holen. Kannst du inzwischen die Hühner füttern?«
Der Hofbesitzer ging ins Haus und kam mir mit einer Packung Eier entgegen.
»Tach, ich bin Bauer Albrecht. Meine Frau Giesela hast du ja schon kennengelernt.«
»Frau?« dachte ich.
Giesela musste als Kind vertauscht worden sein. Hätte ich Albrecht und Giesela bei einer Gegenüberstellung als Bauersfrau und Bauer identifizieren müssen, ich hätte versagt. Auch eine Stimmenanalyse hätte sie nicht als Frau entlarvt.
»Was guckst du denn so? Ist dir nicht gut?« fragte Bauer Albrecht.
Ich versuchte, wieder ein normales Gesicht aufzusetzen und antwortete: »Nö, alles bestens. Danke für die Eier. Was bekommen Sie dafür?«
»Das macht 2,- Euro. Wenn’s geht, passend.«
Ich kramte das Geld aus meiner Hosentasche, bezahlte und stiefelte davon.
An Eier zu kommen war somit kein Problem. Für alles Weitere blieb mir keine andere Wahl, als wöchentlich den Weg zum Supermarkt nach Altstielitz auf mich zu nehmen - per Muskelkraft. Mein Fahrrad stand zu Hause in Burgstadt. Bevor ich es holen würde, musste Hans‘ Leihgabe für meine Touren herhalten. Es pendelte zwar ein Bus zwischen Zhirow und Altstielitz, aber das nur alle Jubeljahre. Und die Busfahrer in dieser Gegend hatten ebenfalls ihre Eigenarten.
Als ich einen Tag zuvor am Bahnhof in Altstielitz mit Sack und Pack in den Bus stieg und dem Fahrer freudig mein Ticket präsentierte, guckte mich dieser in aller Seelenruhe an, drehte gelangweilt den Kopf zurück, stierte aus dem Fenster und sagte `einfühlsam´: »Da fahr ich aber nich hin.«
Stille.
In Erwartung einer hilfreichen Erklärung verharrte ich stumm auf den Stufen des Eingangsbereiches. Vom Busfahrer, der unbeeindruckt auf seinem Lenkrad lehnte, kam nichts, keine Regung. In diesem Moment bog ein zweiter Bus um die Ecke. Der störrische Angestellte der Mecklenburger Verkehrsbetriebe runzelte leicht die Stirn, hob langsam die rechte Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf den Kollegen im zweiten Bus.
Ja, so sind sie, die Mecklenburger. Mit denen muss man erst einmal warm werden.
Die Reise nach Zhirow wurde mir wahrlich nicht leicht gemacht. Bereits am Bahnhof in Burgstadt ging einiges schief. Nicht nur, dass mein Zug 30 Minuten Verspätung hatte und die deutsche Bahn so zuvorkommend war, den dadurch ohnehin schon völlig überfüllten Regionalexpress mit nur einem Abteil fahren zu lassen, nein, bereits der Ticketkauf war ein Fall für sich. Der Fahrkartenautomat konnte mich nicht leiden. Die Ticketausgabe blinkte und der Fahrschein wurde problemlos gedruckt, nur die mir zustehenden 4,50 Euro Wechselgeld behielt die Maschine für sich.
»Das fängt ja gut an«, dachte ich und murmelte: »Du blödes Ding!«
Verbale Beschimpfungen halfen jedoch nicht. Selbst die Androhung körperlicher Gewalt brachte den Automaten nicht dazu, mir mein Geld zurückzugeben. Ich ging zum Kundenschalter. Die diensthabende Bahnangestellte nahm meine Beschwerde mit einem Lächeln entgegen.
»Das ist kein Problem Herr Becker. Der Schaden wird selbstverständlich sofort von uns beglichen«, sagte sie freundlich.
Ich bin kein Pfennigfuchser, aber was sein muss, muss sein. Die Frau griff in ihre Kasse, öffnete eine frische Münzrolle und legte die zurückgeforderten Taler passend in meine Hand. Auf dem Weg zum Gleis kreuzte mein Weg dann erneut den widerwilligen Fahrscheinautomaten. Zwei junge Mädchen standen davor. Auch sie hatten eine Karte gelöst. Doch nun spielten sich ganz andere Szenen ab. Die Mädchen konnten es kaum fassen.
»Oh mein Gott«, schrie eine von ihnen, »wir sind reich!«
Währenddessen blinkte die Kartenausgabe unaufhörlich und spuckte ein Geldstück nach dem anderen aus. Es schien, als hätten die beiden Glückspilze den Jackpot des einarmigen Banditen im Spielcasino geknackt. Laut juchend hielten sie die Taschen auf. Alle angestauten Münzen ihrer Vorgänger wurden unaufhaltsam ans Tageslicht gespült.
»So ist es im Leben«, dachte ich, »manchmal verliert man und manchmal gewinnen die Anderen.«
In der Bahn ereignete sich die nächste Geschichte. Die Menschen drängten sich dicht an dicht - so, wie man sich eine gemütliche Zugfahrt vorstellt. Der einzige Sitzplatz, den ich gerade noch ergattern konnte, lag direkt vor der Zugtoilette. Auf dieser verrichtete seit einer gefühlten Ewigkeit eine alte Frau ihr Geschäft.
»Mensch Oma! Wie lange brauchst du denn? Wirst du heute noch fertig?« rief ihr vielleicht achtjähriger Enkel lauthals durch den Zug.
Damit sorgte er für schmunzelnde Gesichter unter den Fahrgästen. Er musste offensichtlich dringend selbst auf das besetzte stille Örtchen. Seine Eltern orderten ihn zurück an seinen Platz.
»Aber ich muss mal! Oma soll hinmachen!«
Schließlich kam seine Oma vom WC. Der Junge sprang auf, lief hinein und verschloss die Tür. Keine Sekunde später schnellte die Drehtür wieder auf und der Enkelsohn stürzte mit großen Augen hervor.
»Orrrr, Oma! Daaaaas stiiinkt! Da kann ich nicht rein gehen. Mama, Oma hat richtig einen in die Schüssel gelegt. Das hält kein Mensch aus.«
Leises Kichern verbreitete sich im Abteil.
Peinlich berührt sagten die Eltern: »Musst du nun, oder musst du nicht?«
Der Junge sah mich mit ängstlichen Augen an. Mit einem tiefen Atemzug und dicken Backen verabschiedete er sich und schloss todesmutig die Tür. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, er schaffte es, drei Minuten lang die Luft anzuhalten.
Als der vollbeladene Schweinetransport