Der Vergangenheit dunkle Zeiten. Ulrike Eschenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrike Eschenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783530
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auch ein ganz braves Kind sein. Du musst mir bitte helfen, dass ich dies werde.“ Ich schloss mein kindliches Gebet mit: „Ich will auch Mama nie mehr weh tun oder ärgern.“

      Schlaflos wälzte ich mich weiter hin und her, als ich plötzlich ein leises Schnattern vernahm. Es war Schlick, unsere Gänsedame. Oh, wie schön wäre es jetzt, dachte ich, wenn ich zu Schlick ins Nest kriechen könnte. Schlick hatte einen Clan von sechs weiteren weißen Gänsen um sich. Sie war mit ihren vier Jahren die Herrscherin des Stalles und mit ihren drei kleinen, schwarzen Tupfen auf dem Kopf nicht zu übersehen. Keiner durfte den Stall betreten, geschweige denn ihre Jungen ansehen. Flügelschlagend und böse zischend verteidigte sie ihr Revier. Alles, was in ihre Nähe kam, wurde beißend und zischend in die Flucht geschlagen.

      Anfangs wurde auch ich bekämpft, doch nach einiger Zeit entwickelte sich eine wunderbare, innige Tierfreundschaft, die lange achtzehn Jahre anhielt. Nur ich durfte nachsehen, wie viel Eier sie ausgebrütet hatte, ob alle junge Gänschen okay waren, und ob die kleine Familie auch noch genug Futter hatte. Sah Schlick mich irgendwo im Hof, kam sie flügelschlagend und schnatternd auf mich zugerannt. Sie schlang dann ihren langen, weißen Gänsehals um meine dünnen Kinderbeine und beknabberte mich liebevoll mit ihrem großen, gelben Schnabel. Oft lag ich halb mit in ihrem Nest. Dann war Schmusen und Putzen angesagt. Zuerst rieb sie ihren Gänsekopf, sanft schnatternd, mal links, mal rechts an meinem Gesicht. Den langen Hals aufstellend, beäugte sie mich anschließend mit schräg gehaltenem Köpfchen von allen Seiten. Meist nahm ich dann mit beiden Händen ihren Kopf und presste dabei stürmische Küsse auf ihren Schnabel. Durch ein Schütteln und Schlenkern ihres Kopfes sowie das mehrmalige Abstreifen ihres Kopfes an ihren Federn zeigte sie mir, dass ihr dies nicht besonders gefiel. Gutmütig, wie sie war, ließ sie dies aber trotzdem immer wieder über sich ergehen. Oftmals, wenn ich so neben ihr lag, wurden meine Haare von ihr geputzt. Strähne für Strähne zog sie sie durch ihren Schnabel. Da ich Locken hatte, die sich nicht so hinlegten, wie sie das wollte, wurde die ganze Prozedur immer wieder wiederholt. War sie dann endlich zufrieden mit ihrem Werk, stupste sie mich mit ihrem Schnabel mehrmals in den Nacken. Danach legte sie ihren langen Hals in meinen Schoss und schloss genüsslich ihre Augen.

      Kam ich zu ihr in das Nest, war der Ablauf immer der gleiche. Sie war ein außergewöhnlich kluges und auch sehr liebes Tier! War sie mit ihrem Clan hinter unserem Haus im Teich, wo sich meist die Nachbarsgänse auch aufhielten, und ich rief nach ihr: „ Schlick, Schlick“, gab sie mir immer mit einem „scherr, scherr“ Antwort. An Schlick und ihre liebevollen Gänseaugen denkend, schlief ich endlich ein.

      Mein Po war am andern Tag geschwollen und die Schlagfurchen verschorft. Mama musste nach einigen Tagen, da sich meine Wunden entzündet hatten, einen Arzt mit meinem geschlagenen Po behelligen. Als dieser mein geschundenes Hinterteil sah, meinte er jedoch lapidar: „Es ist schade um jeden Schlag, der daneben geht. Kinder brauchen ab und an eine Tracht Prügel, anders würde eine gute Erziehung nicht funktionieren.“ Er schrieb eine Salbe auf und meinte: „Alles halb so schlimm, in ein paar Tagen ist das wieder abgeheilt.“ Für Mama waren diese seine Worte eine Bestätigung ihrer Erziehungsmethoden. Dass jener Arzt damals eine derart brutale Kindererziehung vertrat, kann ich bis heute nicht verstehen.

      Der Zeitgeist vieler Eltern und Erziehungsberechtigten war damals allerdings: Kinder müssen strengstens gezüchtigt werden, damit sie anständige Menschen werden und in allen Lebenslagen bestehen können.

      Die Zeit heilt alle Wunden, so auch meinen Po. Papa war mein ein und alles! Ich liebte ihn - und er mich - abgöttisch. Schläge bekam ich von ihm nur ganze zweimal in meinem Leben und das auch nur auf Drängen von Mama hin.

      Die Liebe zu Papa war meiner Mama zunehmend ein Dorn im Auge. Sie wollte mich und meine Liebe für sich ganz alleine besitzen. Kroch ich am Sonntagmorgen ab und an mal zu Papa ins Bett, um mit ihm zu rangeln oder zu kuscheln, gab es, sobald Mama dies bemerkte, ein riesiges Theater. Sie schimpfte mit uns beiden und meinte: „Ein Kind gehört nicht in das Bett der Eltern, schon gar nicht in Vaters Bett.“ Papa versuchte ihr immer wieder zu erklären, dass ein Kind das brauche und dies doch auch ganz normal sei. Mama aber ließ Vaters Argument nicht gelten und vertrat weiterhin ihren Standpunkt.

      Spielsachen besaß ich jede Menge. Es wurde mir das schönste und teuerste gekauft. Spielen jedoch durfte ich nur alleine damit. Mama lebte immer in der Angst, es könne mir geklaut oder kaputtgemacht werden.

      Sehr oft fühlte ich mich alleine, einsam und traurig! Obwohl wir einen schönen, großen Garten unser Eigen nannten, durften keine Spielkameraden zu mir kommen. Mama schirmte mich vor allem und jedem ab. Traurig stand ich oftmals am Zaun unseres Gartens und sah den spielenden Kindern vor unserem Haus zu. Soviel ich auch bettelte, ebenfalls hinausgehen zu dürfen, es half nichts - ich durfte nicht!

      Eines Tages ließ sich Mama doch erweichen und lud zwei Nachbarskinder zum Spielen mit mir in unseren Garten ein. Dies war für mich der Himmel auf Erden. Endlich mal Kinder um mich und so richtig nach Lust und Laune toben und spielen können. Von nun an durften die Nachbarskinder einmal pro Woche zu mir kommen. Leider dauerte dies nicht sehr lang. Mama vermisste irgendwann ein kleines, goldenes Armkettchen. Sie behauptete, ich hätte es genommen, dann verloren oder vielleicht sogar an meine Spielkameraden verschenkt. Nein!!! Ich hatte dieses Kettchen nicht genommen! Mama ließ sich aber nicht davon abbringen und meinte immer wieder, ich hätte es geklaut. Sie bezeichnete mich als Lügnerin und „stehlendes Etwas“. Wieder fiel in ihrem Jähzorn der Satz: „Du bist die Gleiche wie deine Alte!“ Was sollte denn nur immer dieser Satz? Ich konnte mir nicht erklären, was dieser zu bedeuten hatte.

      Obwohl ich immer wieder verneinte, dieses Kettchen genommen zu haben, glaubte sie mir nicht. Wie so oft bekam ich wieder mal die Hundepeitsche zu spüren. Überdies gab es ein absolutes Spiel- und Besuchsverbot der Nachbarskinder. Weinend lag ich mal wieder in meinem Bett. Der Po schmerzte von den Schlägen. Noch mehr jedoch schmerzte, dass Mama der Meinung war, ich hätte sie bestohlen und belogen. Ich liebte Mama und ich hätte sie nie bestohlen. Sie konnte auch lieb und nett sein, mich in den Arm nehmen und mit mir kuscheln. Besonders lieb zu mir war sie, wenn sie von Freunden und Bekannten zu hören bekam, sie hätte ja so ein hübsches, süßes Mädchen. Ich war dann immer ihr ein und alles sowie das liebste und folgsamste Kind der Welt.

      Warum half Papa mir nicht? Glaubte er mir auch nicht? Dachte auch er, ich hätte dieses doofe Kettchen gestohlen? Warum stand er nicht, wie früher so oft, beschützend hinter mir? Wenn er auch nicht viel gegen Mama hatte ausrichten können, so tat es doch gut, ihn hinter mir zu wissen. Seine Liebe zu spüren. Wo war Papa überhaupt? In der letzten Zeit war er sehr wenig zu Hause gewesen und wenn, dann war er irgendwie anders als sonst. Bei diesen Gedankengängen nahm mich der Schlaf in seine Arme. In dieser Nacht nässte ich das erste Mal mein Bett ein. Morgens bekam ich von Mama zu hören: „Du bist ein großes Schwein, mit sechs Jahren noch ins Bett zu pieseln. Ich werde dies allen Leuten erzählen.“ Was sie dann auch fleißig bei allen Bekannten und Nachbarn tat.

      Das Bettnässen bekam ich für lange Zeit nicht in den Griff. So sehr ich mich auch bemühte, es passierte immer und immer wieder. Mama bezeichnete mich jedes Mal als unmögliches, schweinisches Kind. Oft musste ich zur Strafe in meiner Pisse liegen bleiben, damit, wie sie meinte, ich lernte, so etwas nicht mehr zu tun. Ich schämte mich sehr dafür und wurde immer ruhiger und zog mich immer mehr zurück. Oft plagten mich des Nachts Albträume von großen Gewässern. Ich stand dann am Ufer eines großen Wassers und versuchte, auf die andere Seite zu gelangen, doch das Wasser wurde immer breiter und größer. Die gegenüber liegende Uferseite verschwand im Wasser. Zugleich kam ein großer Wasserstrudel auf mich zu und zog mich in die Tiefe. Das Wasser nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken und niemand half mir. Schweißgebadet und zitternd vor Angst wachte ich aus diesen Träumen auf. Lieber Gott, betete ich oft beim Zubettgehen, bitte, bitte lass mich diesen Traum nicht mehr träumen, ich will auch ganz brav sein. Doch alles Beten half nichts. Dieser scheußliche und angsteinflößende Traum schlich sich immer und immer wieder in mein Bett. Aus Angst vor diesem Traum weinte ich mich oftmals in den Schlaf.

      Kapitel 3

      Die bevorstehende Einschulung machte mir etwas Mut in meinem Leben. Ich freute mich darauf! Vor allen Dingen