Innen. Petra Mayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Mayr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742748157
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dem Dach liegen.

      Er kroch heraus, öffnete den unbeschädigten Kofferraum. Das Warndreieck und die Warnweste, die im Fach für das Ersatzrad lagen, vielen ihm von oben entgegen. Er sicherte den Unfallort wie ein Profi.

      Dann zündete er sich eine Zigarette an (damals rauchte er noch). Er setzte sich auf die Leitplanke. Ein leichtes, eher inneres Zittern stellte sich ein.

      Als Rettungswagen und Polizei eintrafen, gesellte sich noch Angst dazu. Er hatte nur ein paar Prellungen. Doch allein die Vorstellung, die Vorstellung darüber, was Schwerkraft und Aufprallenergie mit ihm hätten anstellen können, saß ihm noch lange im Nacken.

      Jetzt spürte er wieder dieses innere Zittern. Banale Träume waren in seine heile Wirklichkeit gestürzt. Philipp legte vorsichtig den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr weiter. Die Holzhütte auf der Wiese mit den beiden Pferden geisterte nun durch seinen Kopf. Er sah die Szene nun in einem anderen Licht.

      Er wischte alles bei Seite und kurvte etwas zu schnell aus dem dunklen Wald heraus.

      Die Schatten der Fichten schienen ihn zu verfolgten, wie Zeugen für das Unfassbare. Erst als er wieder freies Feld sah, fühlte er sich wohler.

      In einer Ecke der Gartenabteilung des Baumarkts gab es zwar halbvertrocknete Lebensbäume aber keinen Liguster. Er fragte eine Verkäuferin.

      „Nein, Liguster haben wir gerade nicht mehr“, sagte sie, während sie ein paar umgewehte Töpfe aufstellte. „Aber gleich ein paar Straßen weiter ist eine Gärtnerei, vielleicht finden sie dort welche.“

      Schon von weitem sah er die Glashäuser. Er parkte auf einem geschotterten Parkplatz. Gleich neben dem Gewächshaus konnte er endlich die Stauden finden.

      Durch die Abflusslöcher ihrer Plastiktöpfe hatten sie ihre weißen Wurzeln in den Boden gekrallt. Philipp zog daran und riss sie aus dem Boden.

      Als er die Töpfe auf die Theke mit der altmodischen Kasse stellte, sah er gerade noch aus dem Augenwinkel, wie er mit dem Ellenbogen etwas streifte, was sich dann bewegte.

      Es war ein Winzling.

      Ein kleines Pflänzchen.

      Es stand am Tischrand in einem hübschen bunten Topf, kaum größer als ein Eierbecher.

      Innerhalb von Sekunden bewegten sich ein paar seiner feinen fedrigen Blättchen aufeinander zu, wie ein Buch das sich selbst zuschlägt.

      Für vier Euro neunzig kaufte er die Mimose. Als der Gärtner das kleine Ding in ein Stück Zeitungspapier einrollte, klappte es in Windeseile alle Blättchen zusammen. Nun hatte die Mimose dreiviertel ihrer Größe eingebüßt. Sie sah so mager und verdreht aus als wolle sie sich verstecken.

      Die drei Ligustertöpfe mit ihren weißen Wurzeln, verteilten im Auto einen erdigen Geruch. Wo sollte er nur die Mimose verstauen?

      Er nahm die Wasserflasche aus dem Getränkehalter, warf sie auf den Rücksitz und stellte die Mimose hinein.

      Philipp war immer noch aufgewühlt. Aber er hatte schon etwas Distanz zu der Sache. Er überlegte, ob er Gil einweihen sollte.

      Einweihen?

      Einweihen!

      Als handele es sich um ein Geheimnis. Um etwas, was man niemandem oder doch zumindest nicht jedem erzählen sollte. Tatsächlich fühlte sich Philipp, als sei ihm etwas zugestoßen.

      Er stellte sich das Gesicht von seinem Freund, dem Statiker vor, sollte er ihm von der Sache erzählen. Zweifellos, daran gab es nichts zu rütteln, würde er ihn bestenfalls für überarbeitet, schlimmstenfalls für übergeschnappt halten. Bei Gil war es schwer zu sagen. Die Sache verwirrte ihn so sehr, dass es ihm sicherer erschien, zu schweigen.

      Er hievte die Ligusterpflanzen aus dem Kofferraum. Dann befreite er die Mimose aus dem Getränkehalter, entfernte die Zeitung und hielt sie Gil vor die Nase. Mickrig, fast stachelig sah sie aus mit ihren zusammengeklappten Blättern.

      In Philipps Augen konnte das ihrer Persönlichkeit nichts anhaben. Gil dachte zuerst, es sei ein Kaktus.

      Sie fand, dass die Mimose genauso aussähe, wie ihre Tante Milla als sie drei war. Brenda hatte nach ihrem Unfall (oder sollte man besser Glücksfall sagen?), jedenfalls nach der Operation in einem Anflug von Sentimentalität alte Fotos hervorgekramt.

      Auf einem etwas vergilbten war sie als Fünfjährige mit ihrer kleinen Schwester Milla im Schlepptau zu sehen.

      Milla hatte gerade die Masern überstanden und war spindeldürr. Auf dem Foto wirkten ihre knochigen Beine und Arme ungelenk und verdreht wie angehängte Fremdkörper. Bald hatte Milla wieder zugenommen und sich innerhalb kürzester Zeit prächtig erholt.

      Philipp stellte Milla auf die Fensterbank in seinem Arbeitszimmer und wusste, dass sie sich prächtig entwickeln würde.

      Eines ihrer feinen zusammengepressten Blättchen löste sich gerade vorsichtig wie der Flügel eines Insekts und begann leicht zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch am Fenster vor dem graublauen Himmel blinkte es Orange. Der Anrufbeantworter sah aus wie eine ausgefallene Ampel.

      Der Statiker hatte eine Frage wegen einer Berechnung. Die Autowerkstatt stellte einen Termin für die Reparatur des Blinkers in Aussicht. Eine Frau Berger, die Philipp nicht kannte, bat um Rückruf.

      Dinge mussten erledigt werden. Eines nach dem anderen. Der Reihe nach. Nun drängte die Zeit die Dinge wieder in eine Reihenfolge.

      4. Zeitlosengewächse

      „Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“

      Salvador Dali, Maler

      Philipp erlebte noch immer, wie schon als Junge, Brüche in seiner Realität. Momente hereinbrechender Reflexion.

      Sekunden überdeutlicher Klarheit. Ein Teil seines Bewusstseins schien sich dann von ihm abzulösen. Schwirrte hinaus in den Kosmos. Sammelte wie ein Satellit Daten über ihn. Sendete sie in ein Rechenzentrum. Mittlerweile schätzte er diesen Zustand. Gleisendes Licht leuchtete dann sein Leben aus, ließ keinen Winkel im Dunkeln.

      Mitten im Treiben konnte er so — wenn notwendig — den Kurs ändern. Es war eine Art Freiheit. Philipp war immer schon frei, innerlich frei. Eine Freiheit, die das Glück des Losgelöstseins bedeutete.

      Die Sache mit dem Traum, schien aber etwas ganz anderes zu sein. Ein harter Brocken.

      Philipp ging nach draußen, um die Stauden in den Garten zu bringen. Dort entdeckte er inmitten von trockenen Gräsern eine zartviolette Herbstzeitlose. Gil hatte im letzten Frühjahr einige Zwiebeln dort in den Boden gesteckt.

      Der Blütenkelch war ein wenig zur Seite gekippt. Ihr Stängel war sehr lang und dünn. Der viele Regen der letzten Wochen hatte ihr zugesetzt. Trotzdem schien sie inmitten der Brauntöne von vertrockneten Blättern und Blüten mit ihrem Violett fast zu leuchten, obwohl es langsam Dunkel wurde.

      Eine HERBSTZEITLOSE, Philipp war stolz. Stolz, darauf dass er sich den Namen dieses Gewächses merken konnte. Er interessierte sich eigentlich nicht für Pflanzen. Er sah sie gerne an, mehr aber auch nicht. Er musste nicht ihren Namen kennen, nur weil er sie schön fand.

      Bei Gil war das anders. In ihrer übersprudelnden Freude zeigte sie im oft, was sie wohin gepflanzt hatte. Erstaunlicher Weise konnte er sich dann meistens die Namen merken. Bei den Herbstzeitlosen war es besonders leicht. Herbstzeitlose, ein Name der ausgefallen war. Noch verrückter fand es Philipp, dass die Herbstzeitlose zur Familie der ZEITLOSENGEWÄCHSE gehörte.

      Zeitlosengewächse hießen ein paar hundert Arten, die zu ungewöhnlichen Zeiten blühten. Zum Beispiel Ende Oktober, wie das kleine zarte Pflänzchen da draußen, das seinen Kopf an die Gräser schmiegte.

      Philipp kam in die Küche, wo sich Gil am Kühlschrank zu schaffen machte. Sie versuchte ihre Marmeladengläser zu ordnen. Gil hatte