Philipp hatte ihm noch einen schönen Tag gewünscht und war in sein Auto gestiegen. Das Ganze kam ihm damals dermaßen merkwürdig vor, dass er noch wochenlang skeptisch seine Post durchblätterte und auf ein Nachspiel wartete. Nichts passierte.
Es war nicht das erste Mal, dass er dem, was im widerfuhr, nicht traute.
Eine knappe Stunde Fahrt und seine Gummistiefel musste er für den Termin am nächsten Tag einplanen. Mittlerweile war es spät geworden. Er ging vorsichtig ins Schlafzimmer, wo Gil bereits leise atmend schlief. Wie meistens lugte die Hälfte ihres Fußes unter der Bettdecke hervor. Der Kater sprang missmutig vom Bett als Philipp die Decke anhob.
Mit dem Kater war es so eine Sache. Er war ihnen vor einem halben Jahr etwas abgemagert zuglaufen. Obwohl ihn keiner wollte, hatten beide den festen Vorsatz, ihn ins Tierheim zu bringen, immer wieder vertagt. Entweder Philipp hatte keine Zeit oder Gil hatte keine Zeit, oder sie stellte sich vor, wie er mit vielen anderen Katzen im Tierheim in einem tristen Gehege vegetieren würde. Was den festen Vorsatz langsam aufweichte, bis er irgendwann vollkommen verschwand.
Sie hatten dem Kater von Anfang an keinen Namen gegeben. Er schien zu spüren, dass er nur geduldet, nicht aber voll respektiert wurde.
Er strengte sich an, diesen Makel zu beheben. Er streifte um ihre Beine, legte sich schnurrend und provozierend zugleich in Philipps Sessel.
Er schaute sie mit seinen Augen an, wie mit einem Verstehen, das aus einer anderen Welt kam. Augen, die von der Seite betrachtet durchsichtig und glatt wie geschliffenes Glas aussahen. Deren Hintergrund aber eine Art fluoreszierende Fläche zu sein schien.
Gelegentlich schubste der Kater Philipp und zwang ihn, sich mit ihm zu beschäftigen. Aber was noch viel wirkungsvoller war, der Kater tat einfach so, als ob das Haus, in dem er herumstreifte, schon immer sein Revier gewesen sei.
„Der Kater ist unser Schicksal“ sagte Gil seit kurzem. In der Art, wie sie das sagte, schwang mit, dass sie mit diesem Schicksal nicht unzufrieden war.
„Okay“, sagte Philipp. „Dem Kater bleibt also das Tierheim erspart.“
Schließlich hatten sich beide an ihn gewöhnt, so wie man sich an den Winter gewöhnt, oder wie man dem Geschmack einer neuen Kaffeesorte, wenn man ihn nur lange genug trinkt, doch noch etwas abgewinnen kann.
Halbwach hielt Philipp die elektrische Zahnbürste wie gewohnt zuerst an die obere Zahnreihe. Beim leisen Vibrieren musste er an das Wort „Molare“ denken, das er neulich von seinem Zahnarzt gehört hatte, und das aber bloß die Mahlzähne meinte, obwohl es sich nach riesigen Bergen oder Eiszeitgletschern anhörte.
Dann schweifte er wieder ab. Während er noch immer schlaftrunken in die alte Weide schaute und feststellte, dass schon das ein oder andere Blatt gelb wurde, fiel ihm ein, was er heute Nacht geträumt hatte.
Es tauchten jede Menge zusammenhanglose Sequenzen auf, die sich sofort wieder auflösten. Andere dagegen waren noch sehr präsent, so als hätte er sie gerade erlebt.
Diese Traumstücke erschienen ihm schon fast hyperreal. Ja, hyperreal war das richtige Wort, dachte Philipp, weil ihn diese Art der übersteigerten Deutlichkeit an eine Ausstellung im vergangenen Jahr erinnerte.
Eine Ausstellung, deren Thema der sogenannte Hyperrealismus gewesen war. Eine Kunstrichtung, die er vorher noch nicht kannte. Die Bilder in der Galerie, es waren Stillleben in Öl, hatten Motive gezeigt, die echter als die Wirklichkeit aussahen. Sie schienen dem Betrachter eine Realität in drei Dimensionen zu präsentieren. Fast mochte man über das Bild streichen, um zu spüren, dass es nur eine glatte Fläche war, nicht plastisch und nicht aus tieferen Ebenen bestehend.
Ja, er hätte gerne überprüft, ob er die Melone oder den Granatapfel nicht einfach vom silbernen Teller hätte nehmen können. Natürlich war im klar gewesen, dass es nicht ging, aber ganz sicher, war er sich nicht.
Die Gemälde hatten sogar schärfer und realistischer gewirkt als eine Fotografie.
Die Kunst der Künstler bestand offenbar darin, das Wirkliche an der Wirklichkeit zu übertreffen. Wenn man es sich so Recht überlegte, kam es Philipp in den Sinn, sind solche Bilder ein Affront gegen die Wirklichkeit selbst. Genauso war es auch mit seinem Traum. Er war ein Affront gegen die Wirklichkeit.
Jedenfalls hatte Philipp geträumt, wie ein riesiger Baumstamm von einer Maschine in lange Bretter zersägt wurde. Dabei wirbelten jede Menge Späne durch die Luft und rieselten sachte auf den Boden.
Die Säge, es war eine riesige Kreissäge, hatte schrille, unangenehm kreischend helle Töne gemacht. Ein Windstoß hatte eine Brise ätherischen Holzgeruchs, vielleicht von Kiefern, an seine Nase befördert.
Fast unbeweglich hatte im Hintergrund ein Mann gestanden, von dem nur eine blaue Mütze deutlich zu erkennen gewesen war.
In einem anderen Traumfragment hatte er eine kleine offene Bretterhütte gesehen, die an den Rand einer Wiese gebaut war. Daneben hatte ein ziemlich zerbeulter großer Blechkübel gestanden, in dem Wasser glitzerte.
Während er im Traum die Astlöcher auf den rohen Brettern betrachtet hatte, war ein braunes Pferd gelangweilt hinter der Hütte hervorgetrottet und kurz darauf auch ein kleines schwarz-weiß geschecktes Pony.
Mit einem Ruck schaltete sich die Zahnbürste von selbst aus. Philipp wunderte sich darüber, was sich in seinem schlafenden, oder eben doch phantasierenden Gehirn heute Nacht abgespielt hatte.
Nun, wo er richtig wach war, ärgerte er sich über die nächtlichen Hirngespinste, die ihm sinnlos und auf jeden Fall überflüssig vorkamen. Ein Blick zur Uhr zeigte ihm, dass er aufbrechen musste. Der Kater drückte sich an seinen Beinen vorbei und schoss ins Freie, als Philipp die Haustür öffnete und zum Auto ging.
Auf der Autobahn überholte ihn ein Chrysler mit amerikanischem Autokennzeichen. So einen, allerdings in Silber, hatte Gil gehabt, als er ihr vor über zwölf Jahren in Kalifornien begegnet war. Philipp hatte damals ein Auslandssemester eingeschoben, auch, weil er unbedingt einige der Einfamilienhäuser seines Lieblingsarchitekten Richard Neutra besichtigen wollte. Ob Schicksal, Zufall, oder was auch immer, irgendwann saß in der Bibliothek der Universität eine Studentin mit einem Stapel von Neutra-Büchern vor sich auf dem Tisch.
Das war Gil. Das war der Anfang. Erstaunlich, ging es Philipp durch den Kopf. Alle Beziehungen vor Gil hatte er nach knapp einem oder längstens zwei Jahren abgebrochen.
Anfangs hätte er noch nicht einmal sagen können, warum. Jede Trennung ging mit einer gehörigen Portion an Selbstzweifeln einher, es wieder einmal nicht geschafft zu haben, wozu andere offenbar fähig waren. Innerlich kämpfte er sich zuweilen in die Offensive. Denn unglücklich war er alleine keinesfalls. Früher hatte Philipp immer gedacht, er wäre ein einsamer Mensch, was aber nicht stimmte.
Später, denn Leiden bringt auch Einsicht, wurde ihm immerhin klar, dass er das Leben zu zweit als eng und bedrängend empfand. Es machte sich dann ein Gefühl breit, als ob seine Freundinnen versuchten, beharrlich und unnachgiebig an den Kern seines Selbst zu gelangen.
Einen Kern, den er selbst nicht so genau kannte. Etwas Inneres, das sich aber weich und verletzbar anfühlte, und das, so schien es ihm jedenfalls, vor jeglichen Zugriffen geschützt werden musste.
Sabrina, eine Biologiestudentin, von der sich zu trennen ihm besonders schmerzlich war, hatte einen Einsiedlerkrebs gehabt, mit dessen Schicksal sich Philipp verbunden gefühlt hatte. Die Natur hatte es offenbar so gewollt, dass das Hinterteil dieser speziellen Krebse, weich und anfällig war statt fest gepanzert. So als würde sie ihnen sagen wollen, dass sie doch schauen sollten, wie sie damit klar kämen.
Weil Krebse cleverer sind, als man allgemeinhin denkt, hatten sie das Beste daraus gemacht. Sie suchten am Sandstrand nach einem alten Schneckenhaus. Dort lagen viele herum. Dann zwängten sie ihr anfälliges Hinterteil hinein. Wenn sie allerdings wuchsen, dann wurde ihr Haus zu klein und sie brauchten ein größeres. Wieder eine kritische Phase. Alarmstufe rot. Höchste Lebensgefahr.
Einmal, Philipp hatte gerade an einem Glas Wasser