„Ich fühle mich geschmeichelt. Aber wir sind noch nicht fertig. Es gibt noch eine Käseplatte mit dazu passendem Sauvignon Blanc.“ Der Bürgermeister grinste selbstzufrieden. „Gute Geschäfte wickelt man nur bei einem guten Essen ab – wie wir Elsässer sagen.“
„Genügt Ihnen das Restaurant nicht?“, überging Monsieur Schweitzer das Angebot seines Verhandlungspartners und ließ den Blick provozierend durch das feudale Lokal wandern. „Sie besitzen das einzige Restaurant im gesamten Umkreis. Sie machen großen Umsatz, verdienen mehr als sämtliche Dorfbewohner zusammen. Wie viel Geld wollen Sie noch?“
„Als Bürgermeister will ich mich verbessern. Das schadet niemandem“, erklärte Ernest Leibfried stolz. „Ich will aus Potterchen das Beverly Hills von Sarre-Union machen.“
„Geben Sie es doch zu, Sie betreiben diesen Aufwand nur für Ihren Schwiegersohn“, gab Monsieur Schweitzer böse zurück. „Sie können mit Pferden gar nichts anfangen.“
„Halten Sie meine Familie raus!“, warnte der Bürgermeister.
„Ach. So einfach ist das? Jedes Mal, wenn hier ein kleines Mädchen spurlos verschwindet, schmieden Sie neue Pläne, um Ihrem Schwiegersohn einen Gefallen zu tun.“ Monsieur Schweitzer grinste. „Vor zwei Jahren – als Daniela Morsch verschwand - entstand der Reitstall, in dem außer Ihrem Schwiegersohn und ab und zu ein paar Kinder aus dem Dorf niemand reitet. Heute ist die kleine Annabel Radek verschwunden. Schon wollen Sie ein Reithotel errichten. Warum tun Sie das? Was haben Sie getan, dass Ihr Schwiegersohn Sie zu solch großen Taten zwingen kann?“
„Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich glaube, die Fantasie geht mit Ihnen durch.“
„Obwohl“, überlegte Monsieur Schweitzer, als habe der Bürgermeister nichts gesagt, „wenn es in Potterchen so weitergeht, wird der Kindergarten wegen des zu hohen Risikos für kleine Mädchen geschlossen.“
„Halten Sie den Mund!“
„Spätestens dann werde ich Ihnen meinen alten Friedhof verkaufen. Das sind doch gute Aussichten für Sie.“
16
Mit verkrampften Gesichtszügen stakste Pascal Battiston durch das hohe Gras am Rand der Koppel. Er ärgerte sich darüber, dem Drängen des deutschen Mädchens nachgegeben zu haben. Wie hatte er nur glauben können, dass sie reiten konnte? Die logen doch alle, um auf ein Pferd aufsteigen zu dürfen. Leider hat er seinen Fehler erst erkannt, nachdem das Pony an ihm vorbeigeschossen und im wilden Galopp davon gestürmt war.
Jetzt war es zu spät.
Er spürte, wie die Dorfleute ihn anstarrten, hörte bei jedem Schritt ihr Getuschel. Das Großaufgebot der Police Nationale und der Gendarmerie machte alle nervös. Ihn am meisten. Denn alle arbeiteten unter dem Mann, den er hier nie mehr sehen wollte: Jean-Yves Vallaux.
Gab es in Strasbourg keinen anderen zuständigen Beamten als ausgerechnet Jean-Yves Vallaux?
Seine Wut galt jedoch nicht dem Commandant, sie galt seinem Schwiegervater. Nach außen markierte er den großzügigen Bürgermeister, der den Leuten alles gab, was sie von ihm verlangten, sobald er seine gewünschte Gefälligkeit von ihnen erhielt. Dabei vergaß er, dass er damit den Verdacht erst recht auf seine eigene Familie lenkte. Wie konnte der alte Mann nur so gedankenlos handeln? Er wusste doch am besten, wie viel auf dem Spiel stand.
Das Gras hatte seine Schuhe und Strümpfe durchnässt. Schimpfend wich er auf den Trampelpfad neben den Gleisen aus. Vor ihm ragte die Ruine auf, die sein Schwiegervater in ein Ponyhotel umbauen wollte. Der Plan gefiel Pascal. Ein Ponyhotel übertraf seine kühnsten Erwartungen. Nur beschlichen ihn Zweifel, während er sich das baufällige Haus genauer ansah. Ob seinem Schwiegervater bewusst war, wie viel Arbeit und Geld in dieses Projekt gesteckt werden mussten? Mauerrisse zogen sich durch die gesamte Front. Ächzen und Knarren ertönten vom morschen Dachstuhl. Einzelne zerbrochene Ziegelsteine zierten den Trampelpfad. Die rostige Dachrinne hing herab und wippte mit einem permanenten Quietschen im Wind.
Plötzlich glaubte er, im Innern des Gebäudes eine Bewegung gesehen zu haben.
Mit großen Schritten steuerte er den Eingang an, dessen Tür halb verrottet in den Angeln hing. Wütend schob er das morsche Holzstück zu Seite und schaute hinein. Der Boden war mit Dreck, Mäusekot, alten, rostigen Eisenteilen und zerbrochenem Glas übersät. Zwischen dem Abfall schimmerten dunkle Flecken. Zögernd trat er ein. Ein Blick nach oben verriet ihm, dass das Obergeschoss ebenfalls nur noch teilweise erhalten war. Die Decke wies Einsturzstellen auf, durch die er bis zum Giebel sehen konnte, der schief hing und drohte, jeden Augenblick einzustürzen. Zwischen den noch verbliebenen Ziegeln schimmerten die Wolken hindurch, die über den Himmel jagten.
Seine Idee, hier einen Einbrecher zu vermuten, war lächerlich. Er wollte hinaus.
Da erblickte er etwas Schattenhaftes in seinem Augenwinkel.
Er drehte sich um.
Eine Gestalt stand auf der anderen Seite. Es war zu dunkel, um sie zu erkennen. Reglos verharrte sie.
Wie zwei Raubtiere auf der Lauer standen sie sich gegenüber.
Auf einmal drehte sich sein Gegenüber um und rannte davon. Die Person lief gebückt. Mehr konnte Pascal nicht erkennen. „Bleiben Sie stehen!“, rief er, erreichte damit aber nichts. Hastig nahm er die Verfolgung auf. Er durfte nicht zulassen, dass sich hier jeder herumtrieb, wie es ihm beliebte. Das war Privatbesitz und das sollten die Dorfleute kapieren. Wenn es sein musste, auch auf die unfreundliche Art. Er war zu allem entschlossen, während er die geduckte Gestalt verfolgte. Er wählte den direkten Weg quer durch die Ruine. Schnell verkürzte er den Abstand zu dem Flüchtenden. Da knackte es verdächtig unter seinen Füßen. Erschrocken blieb er stehen, schaute nach unten. „Merde“, entfuhr es ihm. Die dunklen Flecken waren Wasserflecken. Er stand genau auf einer dieser brüchigen Stellen. Der Boden gab nach. Beherzt sprang er zur Seite und verhinderte so, dass er eine Etage tiefer landete. Seine Beine brachen durch den morschen Boden. Es gelang ihm, sich mit den Ellenbogen am stabilen Rand abzufangen. Geräuschvoll rieselte und schepperte es unter ihm. Verzweifelt strampelte er. Aber er trat nur ins Nichts. Er blickte suchend umher, ob es etwas gab, woran er sich aus dem Loch herausziehen konnte. Nichts. Nur lose Eisenstangen. Was er außerdem sah, war sein eigener Hund, ein schwarzweißer Mischling. Schwanzwedelnd lief er auf sein Herrchen im Boden zu und leckte ihm genussvoll über das Gesicht.
„Hau ab!“, brüllte Pascal, was der Hund als Aufforderung verstand, noch wilder zu lecken.
*
Tanja passierte die letzten Häuser der Dorfstraße. Kalter Westwind fuhr ihr ins Gesicht. Kniehohes Gras bog sich vor ihren Augen wie dahin brandende Wellen. Links von ihr erstreckten sich die Gleise, rechts lag die Ruine mit rotem löchrigem Ziegeldach. Einzelne Eichenbohlen ragten aus dem First und warfen lange Schatten über den Trampelpfad und die Gleise. Vertrocknete Grasbüschel wirbelten vor dem Eingang auf und umkreisten die rissigen Mauern. Das sollte mal ein Ponyhotel werden? Sie staunte über den waghalsigen Plan des Bürgermeisters. Schimmelpilze zogen sich über die Fassade, Wasserflecken weichten den Beton auf. Sträucher wucherten aus dem Inneren und ragten durch das Mauerwerk nach außen. Der heftige Wind heulte durch jede Ritze. Ein merkwürdiges Brummen mischte sich darunter. Außerdem Krachen und Poltern. Tanja steuerte neugierig den Eingang an. Die Tür - oder das, was noch davon übrig war - lag zersplittert auf dem Boden. Vorsichtig stieg sie über die Trümmer und schaute in das düstere Innere. Das merkwürdige Brummen entpuppte sich als Hundebellen. Wenn das alles war…
Sie drehte sich um, wollte weitergehen.
Da hörte sie noch etwas.
Ein deutliches „Merde.“
Das kam von keinem Hund.
„Ist hier jemand?“