Weg.
Wohin?
Scheiterhaufen
„Wo sind meine Sachen?“, fragt Robert Barsch und der Justizvollzugsbeamte blickt ihn kühl an.
„Na, das mit der Höflichkeit hätten Sie üben können hier bei uns.“
„Ich will einfach hier raus, können Sie das nicht verstehen?“
Der Mann nickt und wirkt etwas besänftigt. Robert nimmt seine private Kleidung entgegen und beobachtet, wie der Beamte seine Sachen auf Vollzähligkeit überprüft. „Eine Armbanduhr, Marke Tag Heuer Carrera, ein Geldbeutel schwarz, ein Handy von Nokia, ein Gürtel, schwarz mit silberner Schnalle, Taschenkamm ...“
Alles da. „Danke.“ Robert unterschreibt, dass ihm die Sachen ausgehändigt wurden, und zieht seine normale Kleidung wieder an – es fühlt sich gut an, dieses Anstaltszeug endlich loszuwerden. Anschließend bringt ein Beamter ihn zur Zahlstelle, dort nimmt er sein Übergangsgeld entgegen, 2500 Euro in bar. Angespart in den drei Jahren, die er in der Gefängniswerkstatt Kabel gelötet hat. Der reinste Hohn, früher hätte er das in zwei Wochen verdient.
Einer der Mitarbeiter begleitet ihn zur Pforte. „Ich hoffe für Sie, dass wir uns nie wiedersehen“, meint der Mann, wahrscheinlich sein Standardspruch. „Holt Sie jemand ab?“
„Nein – wär nett, wenn mir jemand ein Taxi rufen könnte“, sagt Robert Barsch.
„Kein Problem“, sagt der Mann. „Machen Sie´s gut.“
Die Türschleuse summt und er steht draußen vor dem flachen Betonbau und wartet auf das Taxi. Widerliches Wetter, brauner Schneematsch, zum Teil vereist, eine Flocke landet auf seinem Mundwinkel. Und er trägt nur eine dünne Jacke, die Verhaftung war im Spätsommer.
Robert stellt sich vor, das Taxi könnte ihn zu Lila bringen, seiner Lila. Er hat sich so nach ihr gesehnt. Wieso nur hat er am Telefon diesen blöden Spruch losgelassen, das mit dem „killen“? Das hat sie doch hoffentlich nicht ernst genommen! Sie wird bestimmt verstehen, dass er sie noch immer liebt und einfach nur will, dass sie zu ihm zurückkommt. Alles wird er ihr verzeihen, die Anzeigen, die lästigen Besuche durch die Polizei, die Jahre im Knast. Wenn sie ihn in einziges Mal anlächelt, verzeiht er ihr alles ...
Da ist endlich das Taxi. „Nach Marburg, in die Beltershäuser Straße 20“, bittet Robert Barsch den Fahrer.
„Marburg? Das ist aber ´n ordentliches Stückchen! So an die hundert Kilometer. Haben Sie denn die Kohle dafür?“
Schweigend zeigt ihm Robert ein paar Hunderter aus seinem Geldbeutel, und endlich fährt der Mann los.
In seiner Eigentumswohnung ist natürlich alles eingestaubt, klar, nach so langer Zeit. Aber sonst alles in bester Ordnung. Und seine früheren Kunden wissen von seiner Homepage nur, dass die Firma Robert Barsch Consulting wegen eines großen Auftrags in den letzten Jahren keine weiteren Anfragen beantworten konnte. Kurz surft er auf seiner Seite vorbei – das stromlinienförmige Logo in Form eines Fisches gefällt ihm noch immer. Wenn er wollte, könnte er die Fäden seines Lebens einfach wieder aufnehmen. Aber er hat erst mal Wichtigeres zu tun.
Als Erstes macht er sich auf den Weg zu der Garage, die er schon vor längerer Zeit unter anderem Namen angemietet hat. Natürlich wird sein armer, völlig eingestaubter BMW nach drei Jahren Standzeit nicht mehr anspringen, er versucht es gar nicht erst, sondern hängt die Autobatterie erstmal ans Ladegerät.
Damals, nach dem Urteil, hat er den Wagen abgemeldet, und er hat nicht die Absicht, ihn wieder zuzulassen. Er hat noch eine Auswahl an falschen Nummernschildern, die ihm Milan besorgt hat, und entscheidet sich schließlich, ein Frankfurter Kennzeichen zu montieren. Bis sich die Batterie wieder gefüllt hat, istgenug Zeit, ein paar wichtige Anrufe zu erledigen. Als erstes macht er Frank zur Schnecke, weil er in den letzten drei Jahren nichts getan hat, dabei sollte er Lila ordentlich Angst einjagen und die Polizei auf eine falsche Spur führen. Dann telefoniert er mit seinen anderen Kumpels, am längsten davon mit Milan. Ein wirklich guter Freund, einer, der seine Liebe versteht und ernst nimmt.
Robert Barsch macht sich daran, seinen Koffer zu packen. Noch heute Abend wird er in Offenbach sein. Bald wird er Lila wiedersehen, bald, sehr bald! Ob sie noch sauer ist wegen der Katze damals? Hoffentlich nicht.
Aber auch wenn Lila versucht, ihm aus dem Weg zu gehen - die wahre Liebe wird stärker sein!
Der Mann vom Zeugen- und Opferschutzprogramm hat sich ihnen gegenüber nur als „Andreas“ vorgestellt. Außer seinem Vornamen und seiner Mobilnummer wissen sie nichts über ihn. Sie sitzen um den Küchentisch herum, und mit ruhigem, abschätzendem Blick hört Andreas sich an, was sie zu erzählen haben. Hin und wieder nickt er. Maja fragt sich, was er über sie alle denkt.
„Normalerweise ist es kaum möglich, dass eine ganze Familie untertaucht“, sagt er schließlich. „Besonders für Kinder ist es furchtbar schwer, dichtzuhalten.“ Er schaut Elias an, der gerade gelangweilt auf seinem Küchenstuhl hin und her kippelt. „Was meinst du, schaffst du das, das Geheimnis nicht zu verraten? Dass du früher einen anderen Namen hattest?“
„Ja, klar!“ Elias klingt etwas gekränkt. „Ich weiß doch, dass es gefährlich ist, wenn andere das wissen.“
„Gut.“ Der Mann lächelt kurz, dann wendet er sich an sie. „Was ist mit dir, Maja?“
„Ich kann auch dichthalten.“ Maja ist froh, dass sie sich schon wieder etwas erholt hat und nicht mehr bei jeder Gelegenheit weinen muss. Ein heulendes Wrack hätte wohl nicht den richtigen Eindruck gemacht.
„Wir haben die Papiere in ein paar Wochen so weit“, berichtet Andreas. „Bis dahin haben wir auch eine Wohnung gefunden für euch drei, an einem ganz anderen Ort.“
„Können wir uns den Ort aussuchen?“, fragt Lila, und fast gleichzeitig platzt Maja heraus: „In ein paar Wochen erst?“ Sollen sie etwa so lange hier bleiben? Heute war Elias kurz draußen im Garten, und sofort hat Frau Singerl ihn ermahnt, den Schnee nicht so zu zertrampeln, sonst würde das Gras im Frühjahr nicht wachsen. Was für ein Blödsinn!
„So was dauert leider, es gibt eine Menge vorzubereiten“, entschuldigt sich Andreas und erklärt kurz, dass sie den Ort aussuchen werden – zu klein darf er zum Beispiel aus Sicherheitsgründen nicht sein, und es ist auch wichtig, dass keine Verwandten von ihnen in der Nähe wohnen. Dann wechselt er ganz plötzlich das Thema. „Hat jemand von Ihnen Tattoos?“
„Äh, ja – ich“, erwidert Lila.
„Zeigen Sie mal.“
Zögernd zieht Lila ihren Pullover aus, darunter trägt sie ein T-Shirt. Das Tattoo ist auf der linken Schulter: ein Pegasus, der Maja immer gefallen hat. Kein fliegender, sondern ein nach unten blickender, nachdenklicher. Aber er hat seine Schwingen ausgebreitet, er kann losfliegen, wenn er den Mut dazu findet ...
„Der ist leider sehr ungewöhnlich“, sagt Andreas. „Unbedingt entfernen lassen.“
Lila presst die Lippen zusammen; Maja weiß, dass sie an diesem Tattoo hängt.
Als Nächstes sollen sie Auskunft über ihre Hobbys geben und verdutzt zählen sie nacheinander ihre Freizeitbeschäftigungen auf. Lila stöbert gerne auf Flohmärkten, schwimmt und schreibt gerne, Maja experimentiert, liest viel, fährt hin und wieder Einrad und spielt Gitarre. Den Blog, den sie gehostet hat, lässt sie gleich weg, der ist leider Vergangenheit. Elias lernt gerade Flöte und bastelt wie ein Wilder.
„Das ist alles okay“, urteilt Andreas. „Manchmal ist es leider notwendig, die Hobbys zu wechseln. Wer zum Beispiel bisher Leistungssport gemacht hat, muss damit aufhören, denn in den Ranglisten von Meisterschaften ist er natürlich sehr einfach aufzuspüren, auch mit einem neuen Namen.“
„Also