„Thubano!“
„Kleiner Thubano, du musst noch viel lernen. Ich habe Schuppen, aber trotzdem bin ich kein Drache!“, antwortete der Fisch und drehte sich im Wasser, dass seine Schuppen silberne Blitze sprühten.
„Bist du ein Wasserdrache?“, fragte Thubano.
Noktus verschluckte sich beinahe vor Lachen.
„Nein, kleiner Drache”, antwortete er schließlich. „Ich bin ein Fisch, kein Drache. Wir sind nicht verwandt. Ich kann nicht an Land leben und du nicht im Wasser. So ist das nun mal! Aber nun muss ich weiter. Gib Acht auf dich, kleiner Drache! Die Welt außerhalb des Drachentals birgt viele Gefahren. Viele Wesen fürchten euch Drachen.“
„Uns fürchten? Warum?“
Doch Noktus war abgetaucht und Thubanos Frage versank im Wasser.
„Seltsam“, murmelte Thubano. „Weshalb sollte jemand Angst vor Drachen haben?“
Thubano wanderte weiter den Bach entlang, bis er zu einem Wald kam. Von Wäldern wusste er nicht mehr, als er von Baralon und seinem Vater erzählt bekommen hatte. Einige einzelne Bäume gab es auch im Drachental, aber nie waren sie so hoch und dick. Und nirgends im Drachental wuchsen so viele Bäume auf einem Platz. Immer wieder blieb er stehen und schaute hoch zu der sattgrünen Blätterdecke über seinem Kopf.
Die Nacht streckte bereits ihre schattigen Finger über das Land, als Thubano eine große Müdigkeit verspürte. Er musste sich einen Platz zum Schlafen suchen.
„Eine Höhle muss es sein“, überlegte Thubano kurzerhand. „Ja, eine saubere und trockene Höhle, genau das muss es sein. Wo sonst soll ein müder Drache schlafen?“
Aber wo sollte Thubano eine Höhle finden? Auf seinem ganzen langen Weg hatte er nicht eine einzige Höhle gesehen. Er musste aus dem Wald! Doch je länger er lief, desto tiefer kam er in den Wald.
Er rannte nach rechts, er rannte geradeaus, er rannte nach links, doch ein Ende des Waldes war nicht abzusehen. Thubano bekam Angst. Angst, nie wieder aus diesem Wald zu finden, Angst, die Nacht ungeschützt in dieser fremden Umgebung verbringen zu müssen, Angst vor dem Alleinsein. Und Weiterrennen hatte auch keinen Sinn! Mutlos blieb er stehen. Ihm war komisch im Kopf und im Bauch und er setzte sich unter den nächsten Baum. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die langsam an seinen Wangen herunterliefen. Es tat gut, den Kummer mit leisen Schluchzern loszulassen.
„Na, na, na“, drang plötzlich eine Stimme durch die Stille. „Wer wird denn gleich weinen?“
Thubano sah auf und blickte in grasgrüne Augen. Dazu gehörte ein runzeliges, braunes Gesicht. Die langen Haare des kaum einen Meter großen Geschöpfes waren zerzaust und standen nach allen Seiten. Ein Waldschrat! Baralon hatte einmal von diesen zweibeinigen Waldwesen erzählt! Dieses Wesen hier passte genau auf seine Beschreibung.
„Wer ... wer bist du?“, schluchzte Thubano. Der Waldschrat kicherte.
„Ich bin Mirakel und wer bist du? Was machst du so alleine hier im tiefsten Wald? Kleine Drachen gehören nicht hierher!“
Während Thubano seine Geschichte erzählte, steckte Mirakel mal seine Hände in die Taschen, mal wippte er auf seinen gestiefelten Füßen, mal durchwühlte er seinen rotbraunen Haarschopf.
„Du suchst also nach einem Freund, der genauso ist wie du. Armer kleiner Drache“, seufzte er. „Leider kann ich dir nicht helfen. Ich glaube nicht, dass du ein Drachenkind finden wirst, dem es ebenso geht wie dir. Ich jedenfalls habe noch nie von einem Drachen gehört, der keine richtigen Flügel hat. Du solltest wieder nach Hause gehen, im Drachental bist du sicher. Die Welt hier draußen ist nichts für einen Drachen, der nicht fliegen kann.“
„Aber ...“, Thubano wollte widersprechen, doch Mirakel legte einen Finger auf seinen Mund.
„Du kommst am besten erst einmal mit. Bei mir bist du sicher. Der Wald ist zu gefährlich für einen kleinen Drachen. Der letzte Krieg ist gerade zu Ende und viele armselige Menschen treiben seitdem ihr Unwesen in diesem Wald.“
„Du kennst die Menschen?“, fragte Thubano.
„Leider nur zu gut“, antwortete Mirakel zähneknirschend. „Komm jetzt! Ich werde dir auf unserem Weg erzählen, was ich weiß.“
Mirakels Berichte von den Menschen erschreckten Thubano sehr. Mirakel schilderte sie als ein kriegerisches, habgieriges Volk, das keine Grenzen kennen wollte. Unentwegt versuchten sie einander zu jagen und zu berauben.
„Ja, kleiner Drache, stell dir vor, selbst vor der Drachenjagd schrecken sie nicht zurück“, krächzte Mirakel und hopste Thubano voraus.
Thubano verstand plötzlich, weshalb weder Baralon noch sein Vater große Lust gehabt hatten, ihm von diesen Wesen zu erzählen.
Mirakels kleine Hütte lag deshalb auch tief versteckt im dichten Unterholz. Der Waldschrat fürchtete die Menschen. Einmal hatten sie ihn bis zur Erschöpfung gejagt, doch Mirakel hatte in allerletzter Sekunde entkommen können. Ein anderes Mal hatten sie seine alte Hütte völlig zerstört, die er damals noch nicht so tief im Wald gebaut hatte. Zum Glück war er zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen!
„Aber jetzt hab ich sie reingelegt! Mein Versteck finden sie nicht mehr so schnell“, lachte er listig. „Halte dich aber um Himmels willen abseits dieser Geschöpfe, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Thubano musste dem Waldschrat feierlich schwören, dass er Menschen gegenüber immer vorsichtig sein würde. Erst danach ließ Mirakel den erschöpften Drachen auf einem Nachtlager aus Ästen und Blättern schlafen. Am nächsten Morgen wurde Thubano schon sehr früh von Mirakel geweckt. Der Waldschrat trug einen großen Korb in seiner linken Hand.
„Guten Morgen“, begrüßte er den Drachen fröhlich. „Ich gehe auf Pilzsuche. Gehe ich richtig in der Annahme, dass du gleich weiterziehen willst?“
„Da hast du Recht“, bestätigte Thubano und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Ich danke dir für alles.“
„Dass du aber auf dich Acht gibst! Du kannst zwar nicht fliegen, aber du hast kräftige Krallen. Klettere also auf einen Baum, wenn du dich in Gefahr glaubst. Gehe nicht zu tief in die Wälder, aber verlasse sie auch nicht. Und meide auf jeden Fall die Dörfer der Menschen. Ich glaube zwar nicht, dass deine Suche nach einem Gleichgesinnten Erfolg hat, aber wenn du nur ausdauernd danach suchst - wer weiß? Vielleicht findest du den Grund dafür, dass deine Flügel nicht wachsen und man kann etwas dagegen tun.“
„Du glaubst, es könnte ein Heilmittel für mich geben?“, fragte Thubano begeistert.
„Gar nichts glaube ich“, fauchte der Waldschrat. „Ich sagte: vielleicht.“
Thubano senkte den Kopf.
„Na, na, na. Was muss ich da sehen. Du wirst dir doch von so einem Wicht wie mir nicht den Mut nehmen lassen! Man kann alles finden, wenn man nur danach sucht. Manchmal ist man allerdings ein bisschen länger auf der Suche. Meine Großmutter hat ihre künstlichen Zähne ja auch wieder gefunden. Es hat fünf Jahre gedauert, ehe sie sie wieder hatte.“
Thubano blickte auf. Ein verschmitztes Lächeln lag nun auf seinen Lippen.
Mirakel zog die linke Augenbraue hoch.
„Wusste ich doch, dass ich dich mit dieser Geschichte aufheitern kann“, brummte er, während er die Tür öffnete. Strahlendes Tageslicht flutete in den Raum.
„Na los, kleiner Drache. Ich begleite dich noch ein Stück“, sagte er mit einem Wackeln seines Kopfes.
Der kleine Drache streckte sich. Erst den einen Fuß, dann den anderen. Er reckte beide Arme nach oben und gähnte ausgiebig. Er machte einen regelrechten Katzenbuckel und wackelte mit den Flügelchen. Dann folgte er dem Waldschrat.
Hätte jemand zu dieser Stunde