Drachen von Thubanos Rasse waren von Geburt an dunkelgrün und wurden mit zunehmendem Alter immer heller, bis sie im Alter weiß waren.
Krowál war würdevoll und prächtig. Sein Weiß strahlte heller als die Schneefelder im Winter und die prachtvolle Mähne aus Silberhaar schillerte klarer als der Vollmond in einem Bergsee. Das Spiel seiner Muskeln zeigte seine Kraft und sein Gang seine Würde.
Die Achtung der anderen Drachen hatte Krowál wegen seiner Beherrschtheit und Weisheit erlangt. Thubano hatte immer so werden wollen wie er.
„Warum sagst du nichts?“, fragte Krowál.
Thubano zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht“, sagte er verlegen.
„Komm wieder nach Hause. Das Drachental ist zwar nur ein kleiner Ort, aber man kann hier ein schönes Leben verbringen“, meinte Krowál.
Der Drachenjunge schüttelte den Kopf.
„Ich kann nicht, Vater. Ich möchte wissen, ob es noch andere wie mich gibt. Vielleicht finde ich auch einen Freund, der mich nicht sofort verlässt, weil ich nicht fliegen kann.“
Krowál nickte.
„Ich verstehe dich, so sehr ich es auch bedauere. Versprich mir aber immer aufzupassen und das hier zu gebrauchen, wenn du in Gefahr gerätst!“
Mit diesen Worten hängte Krowál Thubano eine Kette um den Hals. Eine braungräulich schimmernde Wurzel hing daran, die spiralig gedreht war.
„Was soll ich damit?“, fragte Thubano verwundert und befingerte die Kette. „Es ist nur eine Wurzel.“
„Das ist eine Zauberwurzel. Wenn du die Augen schließt und die Worte ,Akurim narim dialinum‘ sagst, wird mich ihr Zauber zu Hilfe rufen. Ich bin dann augenblicklich bei dir! Du kannst die Kette mit der Wurzel so oft benützen, wie du in Not bist. Missbrauche sie aber nicht! Rufe nur, wenn du keinen anderen Ausweg siehst!“
Thubano konnte sich die Worte nicht gleich behalten und sie mussten ein paar Mal üben, bis er sie richtig beherrschte.
Schließlich nahm Krowál Thubanos linke Hand und schrieb mit dem rechten Finger seiner Klaue den Zauberspruch hinein. Dabei murmelte er die Worte mehrmals vor sich hin. Dann lächelte er zufrieden: „So, nun wirst du den Spruch nie mehr vergessen!“
Er umarmte Thubano ein letztes Mal. Dieser spürte den regelmäßigen Herzschlag seines Vaters und wusste, dass ihre Zuneigung ewig sein würde. Krowál machte sich los, entfaltete seine mächtigen Flügel und hob sich in die Lüfte. Für einen Augenblick verharrte er in der Luft.
„Vergiss die Worte nicht“, beschwor er seinen Sohn, wandte sich ab und flog zur Drachenhöhle zurück.
„Akurim narim dialinum“, flüsterte Thubano, während er mit der rechten Klaue über seine linke Handfläche fuhr.
„Bestimmt nicht, Vater! Bestimmt werde ich den Spruch nie vergessen!“ rief Thubano aus und das Echo kam von den Bergen zurück.
Von einem kühlen Bach und der Macht des Feuers
Thubano drehte dem Drachental den Rücken zu und sah zum ersten Mal die Landschaft hinter den Bergen. Öde, steinig und unendlich weit dehnte sie sich vor ihm aus.
„Oh, meine armen Füße“, seufzte er laut. „Ich wünschte, Vater, du hättest mich ein paar hundert Meter weiter abgesetzt.“
Er nahm die Zauberwurzel, die um seinen Hals hing, und betrachtete sie eingehend.
„Nein“, bestimmte er dann, „ich schaffe es alleine. Das ist keine Situation, aus der ich keinen Ausweg weiß!“
Tapfer begann er seinen Weg über ein Geröllfeld und schon nach kurzer Zeit taten ihm die Füße weh.
Zuerst wollte er wieder umkehren, doch dann dachte er an Galon, den munteren Drachen, der in diesem Augenblick sicherlich über ferne Wälder und Wiesen flog und die Welt erkundete. Und dieser Gedanke trieb ihn voran. Thubano wandte sich nach Nordwesten. Hier schien der Weg über die Gipfel am kürzesten. Zum Süden und Osten hin dehnte sich das Drachental bis zu einem weiten Meer aus, während es Richtung Norden an einen großen Kontinent grenzte.
Nun war er froh, die Karten des alten Baralon ausgiebig studiert zu haben. Der alte Drache war über achttausend Jahre alt und hatte sich im Drachental zur Ruhe gesetzt. Dort verbrachte er seine Zeit damit, Karten seiner Reisen anzufertigen. Oft genug hatten die Ausführungen und Geschichten des alten Drachen über seine Kriege und Abenteuer Thubano verzaubert: Und oft hatte er zusammen mit dem Alten die Karten betrachtet und gemeinsam hatten sie weite Gedankenreisen unternommen.
Die Sonne war längst auf ihren höchsten Punkt gewandert und die Luft war angenehm warm. Thubano atmete tief ein. Vor ihm lag eine grüne Ebene, die sich bis zum Horizont ausdehnte. Die Sonnenstrahlen wurden von der Wasseroberfläche der Flüsse und Seen eingefangen und als glitzernder, silberner Sternenregen
zurückgeworfen. Wolken malten Schatten auf Wälder und Wiesen und ab und an ließen sie einen Spalt, durch den die Sonne in breiten Bändern zur Erde flutete. Vögel nutzten dieses Zwielicht für ihre Spiele und flogen fröhlich zwitschernd ihre Kreise durch die Lichtfurchen. Thubano meinte geradezu, das weiche Gras der Wiesen unter seinen Füßen zu spüren und das stetige Rauschen der Blätter zu hören.
Ohne Pause machte er sich an den Abstieg und war froh, als er endlich seine Hinterfüße in einem kleinen Bach kühlen konnte. Voll Wohlbehagen stöhnte er auf. Er schaute noch einmal zurück und war stolz auf sich selbst. Die Felswand, diese gigantische Mauer, wirkte von unten wie eine unüberwindliche Hürde. Er aber hatte sie bezwungen.
„Kein Wunder, dass das Drachental so abgeschottet bleibt“, dachte Thubano, „es liegt geschützt in einem Bergring. Aber ich habe es geschafft!“
Er schloss die Augen und döste eine Zeit lang vor sich hin. Da kitzelte plötzlich etwas an seinen Zehen. Thubano kicherte und zog den Fuß rasch aus dem Bach. Ein rotweiß geschuppter Fisch steckte den Kopf aus dem Wasser heraus und lächelte den Drachen kopfschüttelnd an.
„Was sagt man dazu?“, sagte der Fisch. „Ein Drache hier unten im Tal! Du hast dich nicht etwa verlaufen?“
Thubano war entzückt. Er hatte noch nie in seinem Leben einen Fisch gesehen, denn die Bäche im Drachental waren fischlos. Er legte sich auf den Bauch, um mit dem Gesicht nahe am Wasser zu sein.
„Ich habe mich nicht verlaufen, ich bin auf dem Weg in die weite Welt!“, antwortete er stolz. „Aber wer bist du? Was machst du da im Wasser?“
„Ich bin Noktus, Herrscher der Gewässer zu Nardo. Ich lebe hier in diesem Wasser, kleiner Drache.“
Der Fisch schnellte aus dem Wasser und machte eine übermütige Drehung.
„Da wirst du ja ganz nass!“, staunte Thubano.
Noktus lachte laut auf: „Natürlich werde ich nass. Wäre schlimm, wenn es um mich herum nicht nass wäre. Wir Fische können ohne Wasser nicht leben, kleiner Drache. Das Wasser ist unsere Welt.“
„Ohne Wasser nicht leben? Heißt das, du kannst gar nicht über die Wiesen laufen, wenn es keinen Regen gibt?“
Abermals lachte Noktus laut auf.
„Ja, kleiner Drache. So ähnlich ist das.“
„Bist du ein Wasserdrache?“, fragte Thubano übermütig.
„Nicht doch! Ich bin ein Fisch!“
„Aber du hast Schuppen,