“Bringen wir an dieser Stelle doch einmal die Dinosaurier ins Spiel: Sie haben unseren Planeten, wie man weiß, über einen unvorstellbar langen Zeitraum beherrscht - 100 Millionen Jahre, und dann waren sie plötzlich weg, einfach weg. Was ist dagegen schon unsere menschliche Spezies? Nicht mehr als eine Zeitblase, nein, ein Bläschen.”
“Wir reden jetzt schon wie die Unterprimaner.”
“Wie die Unterprimaner…warum denn auch nicht?”
“Ja, warum eigentlich nicht.”
“Außerdem betreiben wir ja keine Physik, die sich darauf beschränkt, nach dem Wie zu fragen.”
“Noch einmal zurück zum vorherigen Thema… Verhält es sich nicht oft so, dass diejenigen, die sich betroffen zeigen über das Verschwinden anderer, das Licht der Aufmerksamkeit mehr auf sich selbst zu lenken bemüht sind als auf den, über den sie sprechen?”
“Sie lenken es auf sich, da es ihnen in Wahrheit darum zu tun ist, die eigene Einschaltquote zu erhöhen, nicht, um sich zu äußern, sondern um ihr Selbst zu veräußern, ich meine, auszustellen.”
“Weißt du, was mir bei der Gelegenheit in den Sinn kommt. Der Spruch, nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Passt das nicht ausgezeichnet auf unsere Jetztzeitkapsel?”
“Mir fallen zum Thema gerade Verse aus dem Mondgedicht von Matthias Claudius ein. Du weißt schon - wir stolze Menschenkinder/wir wissen gar nicht viel/wir spinnen Luftgespinste/und kommen weiter ab vom Ziel.”
“Wo immer das liegen mag.”
“Laß uns gemeinsam ein Loch graben…in guter Hoffnung.”
“In welcher guten Hoffnung?”
“Nicht unterwegs stecken zu bleiben.”
“Und mit welchem Ziel?”
“Auf der anderen Seite der Welt wieder heraus zu kommen. Als Antithema.”
“Ja, und was wollen wir da?”
“Kameradschaft finden, die uns überdauert.”
“Hier ist die Tomatensuppe, die Sie bestellt hatten.”
“Danke vielmals.”
“Sie haben Glück. Eigentlich fehlen Suppen ganz auf unserer Speisekarte.”
“Ich weiß, meine Schöne… Wie heißen Sie eigentlich?”
“Maria.”
“Oh, wie meine Tochter… ich heiße Tony, und mein Freund hier heißt Lux.”
“Angenehm.”
“Maria, was tun Sie nach Feierabend als erstes?”
“Ich gehe duschen.”
“Ach, wirklich…? Sollten Sie noch einen Abtrockner brauchen…”
Die sehenswerte junge weibliche Bedienung, die auf den hörenswerten Namen Maria hört, lächelt und entfernt sich lächelnd. Und es ist das Lächeln einer Sommernacht, obwohl gar kein Sommer ist, und auch wohl niemand gerade an den Bergmannschen Kinostreifen mit diesem Titel, noch an ein mögliches Remake denkt.
“Du bist nicht verheiratet?”
“Nein. War es auch nie.”
“Kinder?”
“Nicht, soweit mir bekannt ist.”
“Aber gebunden schon, oder?”
“Gelegentlich.”
“Oh… schau mal, Lux, vielmehr hör mal, was sie da gerade spielen!”
“Valentyne Suite.”
“Himmel, das erinnert mich an mein erstes Verliebtsein. Mir kommen fast die Tränen.”
“Ich habe John Hiseman einmal live erlebt, auf einer ziemlich kleinen Bühne im Norden dieser Republik. Die anderen Musiker kannte ich nicht. Und auch ihn schien kaum noch jemand zu kennen, in der breiten Öffentlichkeit, meine ich. Das änderte sich dann ja wieder. Aber es tat, wie mein Eindruck damals war, seiner Spielfreude keinen Abbruch.”
“Was hast du gerade erzählt, Lux? Entschuldige bitte, ich war vorübergehend ziemlich in meine Erinnerungen abgetaucht.”
“Ach, nicht so wichtig.”
“Wie es wohl wäre, gäbe es von dem Leben, das man hat, zwei oder mehrere Fassungen.”
“Jedenfalls komplizierter, als es ohnehin schon ist.”
“Vor allem, wenn man, ohne den Inhalt zu kennen, eine Wahl zwischen ihnen zu treffen hätte.”
“Möglich auch, dass wir wählen, ohne es zu wissen. Jedenfalls ist es von Fall zu Fall ja ganz angenehm, nicht selber entscheiden zu müssen. Oder wie denkst du darüber?”
“Wenn also das Schicksal entscheidet.”
“Oder der, der es träumt.”
“Exakt, und darauf wie auf manches mehr kommt es natürlich an bei unserem aparten kleinen Gedankenexperiment. Im Prinzip bin ich da durchaus auf deiner Seite.”
“Vergiß deine Suppe nicht, Tony, sie wird sonst kalt.”
“Du redest wie meine Großmutter. Aber keine Sorge. Ich mag auch kalte Tomatensuppe.”
Nach kurzem existentiellen Innehalten, in der am Tisch der zwei Freunde nur Schlürfgeräusche, die ab&an aus Tonys Richtung kommen, zu hören sind, meldet sich letzterer wieder zu Wort:
“Sag einmal, Lux, hättest du, würde man dich noch einmal in dieses schöne schreckliche Dasein werfen, den Wunsch, etwas grundlegend anders machen zu wollen?”
“Nun, ich wünschte, es wäre mir vergönnt, mein Leben, könnte ich es noch einmal leben, auf Seite Einhundert zu beginnen.”
“Meine Frage zielte zwar in eine andere Richtung, doch will ich dich nicht weiter in Verlegenheit bringen. Übrigens. Weißt du, was seltsam ist?”
“Was denn?”
“Es fällt mir leichter, den Kopf nach links, statt nach rechts zu drehen.”
“Interessant?”
“Ob das etwas zu bedeuten hat?”
“Alles hat etwas zu bedeuten.”
Tony verzieht unvermittelt schmerzhaft das Gesicht, zieht beide Schultern hoch, und dreht, als wollte er zu dem eben Gesagten eine Fortsetzung schreiben, den Kopf abwechselnd nach beiden Seiten.
“Was gibt es?”
“Nur… der Rücken. Habe es mit dem Rücken. Sehr lästig. Immer, wenn ich versuche, eine halbe Erdumdrehung hinzukriegen, oder beim Bücken und selbst nachts, es ist eine rechte Plage, eine Altersplage…”
“Materialermüdung, wie? Gehst du zum Arzt?”
“Zu einem? Herrje, habe mittlerweile eine ganze Armee dieser Gattung konsultiert. Es kommt mir vor, als sei mein leibliches Ich in einen von W.C. Röntgens Erben lizensierten Operationssaal versetzt worden. Man sieht sich dutzend-, ja, hundertfach entblößt, doch im Grunde sieht man nichts. Man wird mit Diagnosen, medizinischen Bulletins, Medikamenten und Krankengymnastik zugepflastert, und doch fühlt man sich wie ein kranker Hund, dem der Besitzer entlaufen ist. Ein Orthopäde sprach gar davon,