In der kleinen Wohnung hatte sie mit den drei Katern unmöglich bleiben können. Oskar und Ludwig waren an ein Haus mit einem weitläufigen Garten gewöhnt. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, die Wohnung auf der Halbinsel Stralow zu finden. Tamira konnte sich die Wohnung nur leisten, weil ihre Doktorandenstelle eine Zweidrittelstelle war. Es gab zwei große Zimmer, eine Küche mit einer breiten Öffnung zum Wohnzimmer und ein Bad mit einem Fenster, in dem der Turm der kleinen Kirche erschien, die Bartholomäus am Wasser genannt wurde. Zudem hatte die Wohnung einen Balkon, von dem aus der Bootssteg zu sehen war, der auf das Wasser der Hummelsburger Bucht ragte.
Im Augenblick lebte sie noch aus ihren Umzugskisten. Sie hatte einen Kleiderschrank und Regale bestellt, die in der nächsten Woche geliefert werden würden. Immerhin hatte sie einen Kühlschrank und eine Waschmaschine, ein Bett, einen Schreibtisch und ein neues Sofa. Zu dem Sofa gehörte ein kleiner Tisch. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer standen die Töpfe mit ihrem Basilikum. Nestoras hatte ihr beim Umzug geholfen.
Tamiras Ermessen nach war die Gegend für Katzen weitgehend ungefährlich. Was sollte einer Katze hier passieren? Autos fuhren höchstens bis zur Bushaltestelle gegenüber der Kirche. An vielen Stellen waren hübsche Büsche und Hecken gepflanzt. Unter einen hübschen Busch würde sich eine Katze bestimmt gern schlafen legen. Sie würde Gefallen daran finden, von einer Hecke gedeckt die Nachbarschaft zu erkunden. Das Haus stand am Ende der Halbinsel, wo die Tunnelallee längst in die Landspitzenstraße übergegangen war. Es standen dort mehrere zweistöckige Häuser zwischen den Ufern. In einem der Häuser wohnte Frau Bohrfeldt mit ihrer Französischen Bulldogge, das Haus daneben gehörte der Familie Palmkern. Hinter den Häusern befand sich der Park mit den alten Platanen, der die Halbinsel abschloss.
Tamira stieg mit dem Kaffee in der Hand die Wendeltreppe hinab. Sie warf einen unauffälligen Blick durch ein Fenster der leer stehenden Wohnung im Erdgeschoss und nahm den Weg, der an der Hainbuchenhecke entlang zum Ufer führte, wobei sie im Laufen auf die Zehenspitzen ging, um herauszufinden, ob sie über die Hecke zur Villa auf der anderen Seite schauen konnte. Die Hainbuchen waren etwas zu hoch für Tamira. Das Laufen auf den Zehenspitzen änderte daran nichts.
Der Bootssteg hatte Planken, deren Holz so hell und makellos war, dass es noch keinen Winter erlebt haben konnte. Nach beiden Seiten gingen kleine Stege ab, an denen die Boote lagen. Am Kopf verbreiterte sich der Steg zu einer Plattform. Die Plattform war von einem Geländer eingefasst. In der Mitte des Geländers gab es eine Öffnung, von der aus eine Leiter ins Wasser führte.
Tamira stand am Geländer und schaute über die Hummelsburger Bucht. Am anderen Ufer verschwanden die Häuser zu großen Teilen hinter hochgewachsenen Säulenpappeln. Vor den Pappeln zog sich die Promenade an der Uferlinie entlang bis zu ihrem Steg. Das Haus direkt gegenüber verdeckten die Bäume nicht. Es war so dicht ans Ufer gebaut, dass die Promenade landeinwärts ausweichen musste. Zu diesem Haus gehörte ein Anleger, von dem sich ein Ruderboot löste. Ein Stück weiter den Fluss hinauf waren die Schornsteine des Heizkraftwerks zu sehen, hinter denen die Schornsteine der Zementfabrik erschienen. Im Eingang der Bucht lagen zwei Inseln, die Hochzeitsinsel und der Katzenbruch. Mehrere Läufer bewegten sich auf der Promenade. Wenn sie nicht von der Promenade abbogen, würden sie etwas später an Tamiras Steg vorüberkommen. Bei dem Gedanken an atmungsaktive Laufhosen bekam Tamira das Gefühl, sie könnte sich unpassend gekleidet haben. Ihr Morgenmantel hatte ein schottisches Muster. Es war im Grunde egal, welches Muster der Mantel hatte. Ein Morgenmantel konnte am Morgen unmöglich unpassend sein. Das Ruderboot erreichte die Mitte der Bucht und hielt auf den Steg zu.
Sie musste am frühen Nachmittag zur Universität, um ihren Lektürekurs zu halten. Wenn die Studenten sie mit der Wunde sahen, die nach beiden Seiten über das Pflaster hinausging, würden sie annehmen, die Wunde wäre das Ergebnis einer Kneipenschlägerei. Einer Kneipenschlägerei zwischen verfeindeten Gruppen von Philologen.
Professor Kalarinea hatte die Betreuung ihrer Dissertation übernommen und ihr eine Doktorandenstelle angeboten. Da Professor Gotefrend für die geplanten Lehrveranstaltungen plötzlich nicht mehr zur Verfügung stand, war es möglich gewesen, die halbe Doktorandenstelle zu einer Zweidrittelstelle auszubauen. In diesem Semester hatte Tamira nicht mehr als zwei Kurse zu halten. Es handelte sich um eine Übersetzungsübung und einen Lektürekurs. Professor Kalarinea hatte ihr geraten, die Übersetzungsübung mit Texten zu bestreiten, die sie für ihre Dissertation bearbeitete. Sie solle lediglich darauf achten, mit einfachen Abschnitten zu beginnen. Der Lektürekurs drehte sich um Erzählungen des griechischen Schriftstellers Georgios Bizyenos, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren. In der Kurzgeschichte, die sie für den heutigen Tag ausgesucht hatte, kam eine schwarze Katze vor. Die Katze schlich in der Kirche herum, in der die kranke Schwester des Erzählers zur Genesung lag, und warf die Öllampen von den Tischen, die neben der mittleren Tür der Ikonostase standen. Tamira sagte sich, dass Katzen eben gern Gegenstände fallen sahen. Sie taten es nicht nur, um einen friedlichen Schläfer mit einem Buch am Kopf zu treffen. Es musste etwas mit ihrem Jagdtrieb zu tun haben. Wahrscheinlich hatten bereits die Urkatzen ihre Beute in Felsschluchten geworfen.
Das Ruderboot legte genau dort am Steg an, wo sich die Öffnung im Geländer befand. Eine ältere Dame befestigte das Boot mit einem Seil, legte ein Stativ auf dem Steg ab und stieg die drei Sprossen der Leiter empor. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut mit einem cremefarbenen Hutband, dessen Enden zu einer Schleife gebunden waren. Über ihrer Schulter hing eine Tasche, die man aufgrund des Stativs leicht als Fototasche identifizieren konnte.
»Ich treffe hier selten jemanden um diese Uhrzeit«, sagte die alte Dame. »Wenn überhaupt, dann sind es Sportler und die bleiben niemals stehen.«
Tamira wusste nicht so recht, was sie entgegnen sollte. Die Frau mochte ihr nahelegen, sie nicht beim Fotografieren zu stören. Es mochte auch sein, dass sie froh war, jemanden um diese Uhrzeit auf dem Steg anzutreffen. Tamira kam zu dem Schluss, es sei am besten, der alten Dame mit einem Lächeln zu begegnen.
»Sie haben da eine Verletzung am Kopf«, stellte die Frau fest, die kurz unter der breiten Krempe ihres Strohhutes hervorschaute, um im Anschluss damit zu beginnen, das Stativ aufzubauen.
»Nein, das war der Kater«, antwortete Tamira, als ob man eine Wunde, die einem ein Kater zufügt, nicht Verletzung nannte.
Der Frau schien Tamiras Antwort einzuleuchten. Sie nickte bedächtig, schob die Kamera in die Halterung des Stativs und richtete das Objektiv auf das Haus, von dessen Anleger aus sie über die Bucht gerudert war. Nachdem sie einen Blick durch den Sucher geworfen hatte, nahm sie einige Änderungen an den Einstellungen vor und holte einen Fernauslöser aus der Tasche. »Ich mache jeden Morgen ein Foto von unserem Haus«, sagte sie und drückte den Auslöser.
»Es ist ein schönes Haus«, beeilte sich Tamira zu entgegnen, um klarzustellen, dass sie es keinesfalls für exzentrisch hielt, wenn einer am Morgen eines jeden Tages über die Bucht ruderte, um ein Foto von seinem Haus aufzunehmen. »Wie lange machen Sie diese Fotos schon?«
»Erst seit ein paar Wochen. Ich habe die Kamera und einen Fotokurs geschenkt bekommen.« Die Frau legte eine Hand wie einen Schirm an die breite Krempe ihres Hutes und schaute zum gegenüberliegenden Ufer. »Da fühlt man sich in gewisser Weise zum Fotografieren verpflichtet. Ich musste allerdings bemerken, dass mir das Rudern ausgesprochen gut bekommt.«
Tamira dachte daran, der Frau vorzuschlagen, die Katzen zu fotografieren. Möglicherweise gefielen ihr die Katzen besser als das Haus, wenn sie sich nun einmal zum Fotografieren verpflichtet fühlte. Das Rudern würde sie deswegen nicht aufgeben müssen. Da sich die Frau inzwischen zu ihr gedreht hatte und erneut ihre Kopfverletzung zu betrachten schien, wiederholte Tamira nur: »Das war der Kater.«
Aus den Schornsteinen des Heizkraftwerks quoll dicker weißer Rauch, den ein beständiger Wind über die Bucht in Richtung Alexanderplatz wehte. Der Rauch