Cat's Rest. Gerda M. Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerda M. Neumann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748507710
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was man besonders gut kann, um daraus neue Ideen zu entwickeln. Ich versuchte beides, Marilyn auf ihre Weise auch. Wir waren stark und neugierig und aktiv und wir kamen dennoch ständig an unsere Grenzen, rein physisch. Selbst mit zwanzig gibt es Erschöpfungszustände, die einen ganz hohl sein lassen. Ich erinnere mich an ein Wochenende am Meer, wo ich mich wunderte, dass der Wind mich nicht einfach davon blies. Sehr seltsam.«

       »Aber Sie haben durchgehalten?«

       »Ja, ich habe durchgehalten, Marilyn auch, viele, aber bei weitem nicht alle. Manchmal denke ich rückblickend, diese Jahre waren vor allem ein Stresstraining. Wer am widerstandsfähigsten ist, kommt am weitesten; oder wer beizeiten eine Nische findet, auf die er sich konzentriert. Wenn der Bereich schmal genug ist, den man beackert, geht es auch wieder. Es darf dann allerdings kein Sinneswandel der Mode diesen Bereich abwerfen. Ohne Risiko geht es eben nicht.« Nachdenklich verloren sich ihre Augen in Olivias braunen Augen. »Und so etwas wie Sicherheit ist überhaupt ein sehr vorübergehender Zustand«, grübelte sie.

       »Haben Sie noch mehr Freunde aus dieser Zeit?«

       Wachsamkeit zeigte sich kurz in Helens Miene, verschwand rasch wieder; sich der Vergangenheit zuzuwenden, tat ihr offenbar gut. »Nein, keine Freunde. Bekannte. Viele der Leute sieht man hier und da oder hört von ihnen, von den meisten weiß ich ungefähr, was sie machen, manchmal trifft man sich auf einen Drink, das geht in der King’s Road noch immer, wir treffen uns gern dort. Leila gibt es noch, Leila Man, sie ist eine Freundin von Edith, sie ging die letzten zwei Jahre in dieselbe Schule wie Edith, danach studierte Leila am Saint Martin’s. Sie war im letzten Jahrgang, als ich anfing. Wir liefen uns dort manchmal über den Weg, aber meistens sah ich sie hier.«

       »Und sie ist noch immer mit Edith befreundet?«

       »Ja, noch immer, wenn auch keine Busenfreundin. Dazu sind ihre Leben zu verschieden gelaufen, denke ich. Leila leitet heute die Abteilung für Damenmode bei Selfridges, sehen Sie, das ist eine andere Liga, als ein Wollladen in einer stillen Straße im unteren Chelsea. Aber beide bezeichnen sich noch immer als Freundinnen… telefonieren und so weiter… Edith… kauft… kaufte ihre Kleider bei Selfridges…« Helen verstummte.

       Es schien, als sei sie endgültig verstummt. Olivia war zutiefst erleichtert, als die Ladentür aufgestoßen wurde und eine mollige Frau gleichsam wie eine Böe vom nahen Fluss Cat’s Rest stürmte und Helen umstandslos in die Arme schloss. Es fiel kein Wort, doch Helen gab der Umarmung langsam nach, ihr Kopf sank auf die Schulter der Freundin und schließlich schlossen sich ihre Arme um den runden Leib. Dies tröstliche Bild vor Augen verließ Olivia leise den Schauplatz.

      ⋆

      Überrascht nahm sie draußen die Dämmerung wahr, die sich bereits in die schmale Gasse schlich, während die Hauswände gleichzeitig noch die Sommerwärme abstrahlten. Sie verließ die Vicar’s Passage durch den Fußgängerdurchgang und stand auf der Old Church Street. Hier blieb sie noch einmal stehen, sah hinunter zur Themse und erahnte einen leichten Geruch von feuchtem Sand und Meer. Es musste Ebbe sein. Der unterschiedliche Wasserstand von Flut und Ebbe war hier tief in London nicht mehr sehr groß, aber immer noch vorhanden, man konnte es riechen. Sie spürte die leichte Brise, die vom Fluss herauf in die alte Dorfstraße von Chelsea trieb, erinnerte sich, dass sie auf dem Land stand, dass einst zum Gut von Thomas Morus gehört hatte, dem Berater von Heinrich VIII. und späteren Lordkanzler. Wo genau die östliche Grenze seines Landes verlaufen war, wusste sie nicht, nur, dass Edith und Helen sich nicht sicher waren, ob Cat’s Rest noch auf dem alten Grundbesitz von Thomas Morus stand oder gerade nicht mehr. Aus irgendeinem Grund beschäftigte es sie immer mal wieder.

       Stimmen hallten in der Dämmerung, Musik wehte aus offenen Fenstern und aus dem Pub die Straße hinauf trudelten die ersten Gäste. Erleichtert überließ Olivia sich dem Leben ihrer Stadt und machte sich, wie durch Zauberhand entspannt, auf den Weg nach Hause. Sie würde zu Fuß gehen. Die Sommerabendluft, die Laute der Menschen und London selbst würden ihr gut tun. Sie nahm den direktesten Weg, durch wenige alte Gassen zur King’s Road hinauf, die hier die Pracht ihres Anfangs im Zentrum drüben im Osten oder Nordosten eingebüßt hatte. Die Häuser und Läden waren klein und alt und erinnerten unvorstellbarerweise an das Dorf, das Chelsea noch vor hundert Jahren gewesen war. Hinter der Bahnüberführung wechselte sie durch stille Straßen hinauf zur Fulham Road. Hier war es wesentlich lebendiger, mehr Menschen, mehr Gelächter; Menschen, die abends unterwegs sind, lachen viel, jedenfalls am frühen Abend. In Fulham verließ Olivia die Hauptstraße und lief durch stille Wohnstraßen mit Reihenhäusern aus der Jahrhundertwende ihrer Straße zu. Alle Straßen waren gleich, alle voller Reihenhäuser, alles friedlich. Es folgten Straßen mit Doppelhäusern, Bäume standen nun in den Straßen, unter den großen Platanen war es beinahe finster. Nach einer knappen Stunde war sie zuhause, müde und ernst und entschlossen, für den Rest des Abends zu vergessen, was sie in Cat’s Rest gefunden hatte. Sie lehnte noch innen an der geschlossenen Haustür, als Leonard, Olivias Lebenspartner, die Treppe herunter stürmte und sie fest in die Arme schloss. Diesen Ort würde sie bis zum nächsten Tag nicht mehr verlassen, glücklich gab sie seiner Umarmung nach.

      Kapitel 2

      Der nächste Tag unterbrach mit englischem Landregen die Augusthitze. Olivia hatte die Terrassentür weit geöffnet. Auf den beiden Zweisitzern vor dem Kamin lagen Wangaris afrikanische Stoffe ausgebreitet, darauf die Wollknäule aus Cat’s Rest gruppiert. Am Boden saß sie selber im Schneidersitze und zeichnete. Gegen Mittag wand sie ihre Glieder auseinander, packte die ganze Pracht sorgfältig ein und fuhr zu Wangaris Afrika-Boutique. Sie lag in der High Street von St. John’s Wood und war so voller Farben, dass man atmosphärisch England verließ, wenn man durch die Tür trat. Die Wände leuchteten in Maisgelb, der Tresen mit der Kasse und anderen organisatorischen Notwendigkeiten in einem warmen Magentarot, dazu Kleiderständer, offene Regale und Sitzmöbel in allen Farben und die Kleider, Kissen und Vorhangstoffe waren ebenfalls bunt. Doch hinter all der Farbenpracht gab es einen stillen Winkel mit einem hellgelb gestreiften Vorhang, einem großen Spiegel und einem geflochtenen Sessel. Hier konnte man in Ruhe die Kleider anprobieren und sich auf sich selbst konzentrieren.

       Wangari Aulton und Olivia hatten sich auf dem Neujahrsfest kennengelernt, dass Wangaris Vater, der Schriftsteller Keith Aulton, anlässlich seines Ritterschlages durch die Königin gegeben hatte. Da er am nächsten Tag tot in seinem Bett gelegen hatte, waren sich die beiden jungen Frauen im Laufe der Ermittlungen wiederbegegnet und Wangari hatte Olivias große Pullover entdeckt. Nachdem der Mord aufgeklärt worden war und der Schrecken ein klein wenig nachgelassen hatte, hatte Wangari vor Olivias Tür gestanden, in deren selbstgestrickten Pullovern, Jacken und Kleidern stöbern dürfen und am Ende den Vorschlag zur Zusammenarbeit gemacht. Seitdem entwarf Olivia Strickteile zu den Stoffen, die Wangari aus verschiedenen Ländern Schwarzafrikas mitbrachte und eine wachsende Zahl zumeist schwarzer Frauen in Harlesden und Willesden Green setzten sie in die Wirklichkeit um, dazu einige ältere Damen aus dem Kundenkreis von Cat’s Rest, die gern strickten, aber für die fertigen Sachen keine Verwendung mehr hatten. All diese Unikate verkauften sich hervorragend.

       Wangaris Laden blieb heute so leer wie Cat’s Rest am Vortag. Die Londoner waren in Urlaub und Touristen verirrten sich nur sehr selten in diesen kleinen Stadtteil hinter dem Regent’s Park und schon gar nicht bei Regen. Für einige Entwürfe entschied Wangari sich sofort, über andere würde sie nachdenken. Sie fühlte wieder die Versuchung, einfach alles verwirklichen zu lassen, aber das war nun mal unvernünftig, schließlich musste sie das Geld für die Wolle und den Lohn für ihre Strickerinnen vorstrecken. Am Schluss regte Olivia sie an, über einfarbige Pullover zu den bunten Stoffen nachzudenken, vielleicht mit farbigen Bündchen, die die Lebendigkeit der afrikanischen Stoffe wieder aufnahmen.

       »Was machst du heute noch?«

       Olivia spürte hinter der Frage Wangaris Wunsch, sie aufzuhalten. Gar nicht selten fiel es ihr schwer, die Freundin gehen zu lassen, wenn sie gemeinsam viele Stunden über Stoffen und Wolle gebeugt gewesen waren. Olivia erging es manchmal ähnlich, doch heute hatte sie keine Zeit. »Ich muss noch einen Artikel für den Guardian übersetzen und später dann kommt vielleicht Richard vorbei.« Sie ließ den Türgriff wieder los. »Wangari, ich habe es dir gar nicht erzählt! Edith Munroe, du erinnerst dich