Die Pilotenkonferenz. Dr. Harald Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Harald Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738023916
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beliebigen Teil anbieten. Akzeptiert der zweite Spieler den ihm angebotenen Anteil, so darf er diesen behalten und Spieler eins seinen verbliebenen Anteil. Verweigert Spieler zwei die Annahme seines Anteils, so gehen beide Spieler leer aus. Beide Spieler kennen die Spielregeln. Die Spieler kennen sich nicht und können nicht miteinander kommunizieren, haben also keinerlei Konsequenzen aus ihrem Spielverhalten zu befürchten.

      Verhielten sich beide Spieler rational im Sinne des Homo oeconomicus, so wäre zu erwarten, dass Spieler eins den kleinstmöglichen Anteil, also einen Cent abgibt, und Spieler zwei diesen, wenn auch kleinen, Anteil akzeptiert. Ich denke, wir sind uns einig, dass Hoko also jede Summe akzeptieren würde, schließlich ist auch wenig Geld besser als kein Geld, richtig? Schließlich macht er damit immer noch ein besseres Geschäft - individuelle Nutzenmaximierung! - als darauf zu verzichten, nur um den anderen Spieler zu ärgern. Und jetzt frage ich Sie: Wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen, sagen wir, ein Euro angeboten würde?“

      Das Publikum reagierte postwendend, eindeutige Kommentare und Zwischenrufe waren zu hören.

      „Meine Herren, ich muss schon bitten, keine Kraftausdrücke bitte! Aber genau darum geht es. Sie reagieren emotional! Sie sind sauer, weil der Spieler eins Ihnen so wenig anbietet und selber mit neun Euro nach Hause gehen will. Und natürlich wischen Sie ihm lieber eins aus und lassen ihn leer ausgehen, auch wenn Sie das selbst einen Euro kostet! Schöne Grüße an Hoko!

      Tatsächlich ist ein rationales Verhalten, wie es Hoko an den Tag legen würde, bei diesem Spiel so gut wie nie zu beobachten. Niedrigangebote unter zwei Euro werden für gewöhnlich zurückgewiesen. Das gilt übrigens weltweit. Na ja, fast. Es gibt wohl das eine oder andere Primitiven-Reservat, wo andere Vorstellungen von Gerechtigkeit herrschen. Die Machiguengas im Amazonasregenwald zum Beispiel akzeptieren auch Kleinstbeträge. Aber das ist nicht unser Thema. Wir laufen ja nicht im Lendenschurz rum.

      Entscheidend ist im Übrigen nicht der Betrag von zum Beispiel einem Euro, sondern die Absicht des Gegenspielers. Wenn wir wissen, dass er, aus welchen Gründen auch immer, nur einen Euro bieten kann oder auch gar keinen, wird das in der Regel akzeptiert. Wenn er aber auf unsere Kosten einfach nur möglichst viel abstauben will, bestrafen wir ihn lieber dafür. Das aktiviert das Belohnungsareal in unseren Gehirnen, und diese Genugtuung ist uns offenbar mehr wert als ein oder zwei Euro. Solche Areale hat Hoko natürlich nicht …

      Die meisten Spieler machen aber übrigens auch keine Niedrigangebote. Der anbietende Spieler wird also entweder durch sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden geleitet, auch den anderen Mitspieler substantiell zu beteiligen, oder er antizipiert aus reinem Eigeninteresse die Unfairness-Aversion seines Mitspielers, die diesen zu niedrige Beträge ablehnen lässt.“

      „Irgendwie habe ich mir das mit viel mehr Mathe vorgestellt. Gar nicht so uninteressant“, dachte sich Annegret.

      Dass sie eine halbe Stunde zu früh dran war, und der Vortrag „Klassische Entscheidungsinstrumente“, in dem sie sich wähnte, noch gar nicht begonnen hatte, ahnte sie nicht.

      „Noch interessanter wird das Ganze, wenn Spieler zwei das Angebot annehmen muss. Diese Variante ist als Diktator-Spiel bekannt. Spieler eins muss also keine Zurückweisung befürchten und kann seinen Anteil auf jeden Fall behalten. Was würde Hoko anbieten? Nichts! Warum sollte er etwas anbieten, wenn er alles für sich behalten kann? Und was bieten Menschen tatsächlich an? Empirische Untersuchungen zeigen, dass nun fast doppelt so viele Menschen Halbe-Halbe anbieten als im ursprünglichen Ultimatum Spiel. Ja, Sie haben richtig gehört - die Leute bieten sogar mehr an und nicht weniger! Ist das nicht verrückt? Hoko hätte für diese Zeitgenossen bestenfalls Kopfschütteln übrig. Aber das ist ja in der Tat merkwürdig, nicht? Wenn mir die Zeit nicht davonlaufen würde, wie ich soeben sehe, würde ich Ihnen das Phänomen gerne erklären. Denken Sie also selber darüber nach, die Mentees unter Ihnen können das ja auch mit ihren Mentoren diskutieren. Ich möchte in der verbleibenden Zeit nämlich noch einen Schritt weiter mit Ihnen gehen.“

      „Spieler zwei ist ja jetzt eine arme Wurst, ganz hilflos. Den betrüge ich doch nicht“, dachte sich Annegret.

      „So einfach die eben beschriebenen Experimente auch sind, sie reichen aber, um zu zeigen, dass die Begrenzung auf rein ökonomische Aspekte, wie es charakteristisch für den Hoko ist - ‚wenig Geld ist besser als gar kein Geld‘ -, offensichtlich zu kurz greift. Reale Akteure berücksichtigen bei ihren Entscheidungen mehrere Dimensionen und richten ihr Handeln nicht einseitig nach rein monetären Aspekten aus. Das ist deswegen nicht gleich irrational. Sowohl Hoko als auch die Spieler des Ultimatum-Spieles handeln rational. Während Ersterer seinen Nutzen ausschließlich über die Berücksichtigung der monetären Konsequenzen definiert, ist die Nutzenfunktion der Spieler mehrdimensional. Sie treffen mitunter eine bewusste Entscheidung, auf Geld zu verzichten, weil die Befriedigung, einen aus ihrer Sicht unfairen Spieler zu bestrafen, schwerer wiegt und sie somit zufriedener aus dem Spiel herausgehen, als wenn sie etwas Geld mitgenommen hätten.

      Wir sind halt soziale Wesen. Darüber und wie uns das noch viel mehr von Hoko unterscheidet, wollte ich Ihnen eigentlich noch einiges erzählen, aber ich war wohl mal wieder langsamer als die Uhr. Ich muss zum Schluss kommen.

      So weit, so gut. Wir wissen jetzt zumindest, dass wir Hoko mit einer gewissen Skepsis begegnen sollten. Wir wissen auch, dass wir zwar oft anders handeln als Hoko, aber durchaus auch rational, jedenfalls nicht unvernünftig oder gar irrational. Das Handeln der Spieler kann gut erklärt und nachvollzogen werden. Wir bewegen uns quasi im grünen Bereich. Mit mir und meinem Vortrag haben Sie sozusagen noch Glück gehabt. Morgen Vormittag wird hier Dr. Calva referieren und Sie bestimmt ganz schön strapazieren. Er wird Ihnen die Illusion, wir würden letztlich immerhin vernünftig handeln, gehörig nehmen. Er wird Ihnen zeigen, dass wir häufig ein Urteilsvermögen offenbaren, das nur als irrational, um nicht zu sagen dumm, bezeichnet werden kann. Oder ist es etwa schlau, hundert Euro für einen Zehneuroschein zu bieten?

      Kapitel 5 - Der Mentor

      Zusammen mit den anderen Teilnehmern strebte Tom einem der drei Ausgängen des sich rasch leerenden Tagungsraums entgegen. „Dein Mentor ist Chris“, hatte es in der Einladung lediglich geheißen. Keine weiteren Details zu Chris. „Circa siebzig Prozent männliche Teilnehmer, davon rund die Hälfte jünger als vierzig, die ich als Mentoren mal ausklammere, macht bei rund hundert Zuhören fünfunddreißig potentielle Chris“, rechnete sich Tom vor. „Toll“, sagte er zu sich selbst, „soll ich die jetzt alle ansprechen?“

      Tom fuhr erst einmal wie die meisten anderen auch mit der Rolltreppe aus dem Untergeschoss in die ebenerdig gelegene Aula des Kongresszentrums. Hier erhob sich ein eindrucksvolles pyramidenförmiges Glaskonstrukt über fünf Etagen in die Höhe. Der Zentralbereich der Aula gab den Blick bis zur Spitze des Gebäudes frei. Im Kontrast zu der Glasfassade des Gebäudes stand – farblich wie materiell - die Außenanlage aus hellem Kalkstein. Der Außenbereich war großzügig gestaltet. Vom Haupteingang fiel das Gelände leicht ab, bis es stufenlos im Meer verschwand. Jede Welle zeichnete aufs Neue ein kurzlebiges, einmaliges Muster in den hellen Kalk. Jetzt in der Vormittagssonne und bei dem strahlend blauen Himmel, der sich in der Glasfassade widerspiegelte, wirkte das Gebäude wie die Spitze eines riesigen, aus dem Meer ragenden Eisberges.

      Tom war angetan von dem Zusammenspiel aus Glas und Kalkstein, dem von der Architektur provoziertem Farbspiel des Tageslichts und den Formen des Baus. Als er nach einigen Minuten – oder waren es doch nur Sekunden? – gerade wieder in das Gebäude hineingehen wollte, tippte ihn jemand von schräg hinten an. „Hallo, bist du Tom?“

      Tom schätzte den Mann auf gut sechzig Jahre. Er trug einen hellbeigen, etwas zerknitterten Leinenanzug, darunter ein orangefarbenes T-Shirt. Unter einem schon ausgeblichenen New York Yankees Basecap quoll knapp schulterlanges schlohweißes Haar hervor. Seine Füße steckten in bequemen Leinen-Sneakers, passend zur Farbe seines Anzugs. „Ein Oldie, der bemüht auf lässig macht, wird mir hier als Aufpasser zur Seite gestellt und soll mir womöglich noch was beibringen?“, meldete sich eine spontane Stimme in Toms Kopf zu Wort.

      „Ja, ich bin Tom. Aber woher wissen Sie …?“

      „Chris.