Dannie hält mir ihre Hand unter die Nase und ich schüttle den Kopf, obwohl ich einen Geruch einfange, der wirklich salzig riecht … salzig wie das Meer. War ich schon einmal am Meer? Woher weiß ich, wie das Meer riecht? Dannie plappert fröhlich weiter. Anscheinend hat sich mein Gehirn an ihre Redeweise gewöhnt und ich schaffe es, ihr eine Weile zu folgen und meine Nervosität zu vergessen, als wir uns gemeinsam in die Kantine aufmachen.
Der Gedanke an mein allererstes Frühstück verursacht ein seltsames Kribbeln in meinem Bauch und Dannie beruhigt mich lachend.
„Es ist nichts Besonderes. Jeden Morgen gibt es das gleiche. Langweilig, aber nahrhaft. Mutter Sunshine sagt, dass wir dankbar sein müssen, etwas zu essen zu haben.“
Heißt das, nicht jeder hat etwas zu essen, frage ich mich und es kommt mir falsch vor. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ertrinken meine Gedanken in einem Meer aus Weiß und ich fühle, wie ich mich auflöse. Unzählige Frauen, in dem gleichen Gewandt gekleidet, bilden eine Masse, die sich synchron wie ein riesiges Lebewesen bewegt. Der Einzelne wird zu einer kleinen Zelle, die genau ihren Platz kennt, ihre Aufgabe. Wie soll ich mich in dieses System, das Zahnrad an Zahnrad passgenau konstruiert ist, eingliedern?
Möchte ich das überhaupt?
Wie sollen wir uns in dieser nichtssagenden Welt finden? Ein Ich aufbauen, wo nur ein Wir existiert? Ich bin überwältigt von der Gleichheit, den ausdruckslosen Gesichtern. Alleine Dannies aufmunterndes Lächeln gibt mir Hoffnung. Und ihre Worte schenken mir ein Rückgrat, als sie leise in mein Ohr flüstert: „Du bist nicht wie sie. Das habe ich gleich gesehen. In dir brennt ein Licht.“ So leise, dass es auch meine eigene Gedanken sein könnten, doch es hilft. Ich lächle und finde die Kraft, zu schwimmen und gegen das Ertrinken anzukämpfen.
Unsere Gruppe von zwölf stellt sich an eine Schlange an. Jeder bekommt ein Tablett mit dem gleichen Inhalt. Eine graue Masse, eine braune Flüssigkeit. Wir setzen uns gemeinsam an einen freien Tisch. Ich bin mir noch nicht sicher, doch ich glaube, dass wir unseren Namen nach einen Kreis bilden.
Ich stochere skeptisch in der grauen Masse. Dannie stößt mir einen Ellenbogen in die Rippen und ich zwinge meine Hand ein wenig von der seltsamen Paste auf den Löffel zu schaufeln und führe ihn zu meinen Lippen, schiebe den Inhalt vorsichtig in den Mund und verziehe das Gesicht in Erwartung eines scheußlichen Geschmacks. Doch es schmeckt nach nichts. Überrascht und zu meinem Erstaunen enttäuscht, nippe ich an dem braunen Getränk. Es schmeckt wie Tee. Lauwarmer Kräutertee.
„Und es gibt jeden Tag das Gleiche zum Frühstück?“, frage ich in der Hoffnung, dass Dannie mich auf den Arm genommen hat. Ein Witz in einer Welt der Gleichheit. Ich bin nicht überrascht, als Dannie traurig bejaht.
„Aber das Mittagessen variiert! Es gibt sieben verschiedene Gerichte!“ Ich kann mir denken, dass auch diese im gleichen Zyklus immer und immer wiederkehren. Doch ich behalte meine Gedanken für mich. Ich habe nicht das Recht, mich über etwas zu beschweren, das man mir einfach so gibt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oder?
„Dannie“, frage ich zögerlich, „arbeiten wir?“
Dannie schüttelt den Kopf und erklärt: „Im ersten Jahr sind wir Schüler, die nach sich selbst suchen und einer Aufgabe, die ihnen Erfüllung bringt.“
Ich blicke mich um und suche in den Gesichtern nach einem Funken, der verrät, dass sie an irgendetwas Interesse haben. Viele sind es nicht, die ich ausmachen kann. Die meisten löffeln ihre graue Paste wie gehorsame, kleine Roboter in sich hinein.
„Wie kommt es, dass Mutter Sunshine so fröhlich ist, wenn alle um uns so … so … apathisch sind?“
Dannie blickt sich verstohlen um und flüstert dann leise: „Soweit ich das nach nicht ganz einem Monat beurteilen kann, ist für jeden die Wiedergeburt individuell. Ich habe ein Mädchen gesehen, das sich ständig in die Hose gemacht hat, weil sie nicht wusste, wann sie auf die Toilette muss. Wie ein Baby. Sie musste erst lernen, wann ihr Körper was für Bedürfnisse hatte. Andere haben Sprachprobleme. Aber die meisten sind am Anfang nur willenlose Puppen. Und dann gibt es solche wie dich und mich. Wir erinnern uns zwar nicht an unsere Vergangenheit, darüber hinaus jedoch arbeiten unsere Gehirne normal. Die kognitiven Prozesse funktionieren reibungslos. Jeder Neugeborene hat seine eigenen Bedürfnisse, daher hat jeder auch einen individuellen, auf sich ausgerichteten Unterrichtsplan.“
„Unterrichtsplan …“, wiederhole ich und versuche zu verarbeiten, was ich gerade gehört habe. Dannie nickt und öffnet wieder den Mund und ich schiebe schnell noch eine Frage hinterher. Wer weiß, wann ich sonst wieder bei Dannies Redeschwall die Gelegenheit dazu bekomme. Ich wundere mich kurz, ob ihr Gehirn genug Sauerstoff bekommt und frage: „Werden die anderen mit der Zeit … normal?“
Dannie scheint es, zu meiner Überraschung, die Sprache verschlagen zu haben, und sie sieht mich kurz konzentriert an, bevor sie tief Luft holt: „In meiner Zeit hier, habe ich bei unseren Monaten kleine Fortschritte gesehen. Ich hoffe einfach ganz fest, dass es nicht nur Wunschdenken ist.“ Dann tritt eine ungewohnte Stille zwischen uns und ich werde unruhig. Nach den vielen Worten, fühlt sich Dannies Schweigen falsch an, wie eine Strafe. Also sage ich etwas, irgendetwas: „Wie sieht denn dein Unterrichtsplan aus?“
Ich atme erleichtert auf, als Dannie den Mund öffnet und sich ein Schwall an Informationen, Meinungen und Wertungen über mich ergießen.
„Morgens habe ich immer Ethik und Philosophie. Ich mag diese Gruppe. Da sind viele wie wir. Mädchen und Frauen, bei denen die kognitiven Prozesse wieder voll funktionieren. Die Neigungsfächer sind jeden Tag frei wählbar. Mutter Sunshine nennt es die Zeit der Findung. Es gibt verschiedene Kurse und man darf sich immer wieder neu entscheiden, wo man hin will. Im Moment werden Kochen, Malen, Töpfern, Nähen, Programmieren, Chemie und Mathematik angeboten. Das Programm soll sich ständig wechseln und sich unseren Bedürfnissen anpassen. Kannst du lesen und schreiben?“ Erwartungsvoll sieht Dannie mich an. Doch ich kann nur mit den Schultern zucken und flüstere: „Ich weiß es nicht.“
„Keine Sorge! Mutter Sunshine ist sicher schon dabei einen Test für dich zusammenzustellen. Nach deiner ersten Woche werden deine Fähigkeiten und dein Wissensstand gemessen und dein eigener Stundenplan erstellt. Oh, ich hoffe so, dass wir ein paar gemeinsame Fächer haben! Komm, ich zeige dir den Weg zu den Unterrichtsräumen!“ Dannie greift nach ihrem Tablett, springt auf und ich folge ihr zur Geschirrabgabe. Dann laufen wir verschiedene Glasgänge ab und meine Augen fressen sich an den bewegenden Stillleben fest. Wie in einem alten Schwarzweißfilm, sehe ich durch die Glaswände alles, doch kein Laut dringt an mein Ohr.
Dannie fliegt an leeren Räumen mit aneinandergereihten Stühlen vorbei, bis ans Ende eines langen Ganges. Sie setzt sich in die erste Reihe, zappelt unruhig vor sich hin und wird plötzlich ganz ruhig, als eine wunderschöne Frau den Raum betritt. Sie hat ein schmales Gesicht, in dem pastellgrüne Augen freudig leuchten. Sommersprossen bedecken jeden Tupfer Haut, den ich sehen kann. Feuerrote Haare fallen in Locken über ihre Schultern, bis zu ihrer Taille.
„Guten Morgen, Dannie! Wer ist denn deine neue Freundin?“ Dannies Wangen röten sich und sie stottert vor Aufregung: „Das i… ist Mo!“ Mo? Ich starre Dannie verblüfft an und hebe fragend eine Augenbraue.
„Besser als Om, oder?“ Ich muss lächeln und drehe mich der schönen Rothaarigen zu, die mir die Hand hinstreckt.
„Mein Name ist Aira. Herzlich willkommen, Mo! Im wievielten Monat bist du?“ Ich verstehe ihre Frage nicht und blicke hilfesuchend zu Dannie.
„Es ist heute ihr erster Tag. Ich bin ihre Patin!“, verkündet Dannie stolz.
„Dein erster Tag? Und du bist schon so fit? Alle Achtung! Ich unterrichte Philosophie, Ethik, Literatur, aber eigentlich würde ich am liebsten den ganzen Tag nur lesen. Da das leider nicht geht, versuche ich, andere mit meiner Leidenschaft anzustecken.“ Aira zwinkert mir zu.
„Ich … ich lese gerne! Mich haben Sie angesteckt!“