Sunshine führt mich durch das Kubus-Labyrinth in einen gläsernen Gang. Nur Decke und Boden bieten dem Auge Ruhe. Die Wände sind alle durchsichtig und es wuselt umher, wie in einem Albino-Ameisenhaufen oder einem weißen Bienenstock. Die Vergleiche, die in mir auftauchen, erfreuen mich. Ich weiß, was Ameisen sind und Bienen. Das Wissen wärmt mein Herz und es dauert, bis ich die perfide Bedeutung des Glases erkenne.
Ich werde in einem Aquarium leben, ohne jede Möglichkeit auf Privatsphäre. Schlimmer als jedes Gefängnis, nimmt mir die Durchsichtigkeit jeden Freiraum. Mein Magen rebelliert. Das Wort Privatsphäre scheint riesig und ich kann es nicht fassen. Was bedeutet es? Was will ich tun, das niemand anderes sehen soll? Als mir Tränen in die Augen steigen, habe ich meine erste Antwort. Warum, weiß ich nicht, aber ich darf keine Schwäche zeigen. Ich kämpfe mit dem Kloß in meinem Hals, der Schwäche in meiner Brust und der Trauer, um etwas, das ich nie besessen habe: Freiheit.
Glas, das alles freigibt. Transparenz, die alle Geheimnisse im Keim erstickt. Zu viel, um gut zu sein. Mich umgeben keine Wärter, doch die Augen, die mich durch das Glas hinweg anstarren, sind auf Wanderschaft. Sie gehen auf die Suche nach Informationen über mich. Jeder Schritt wird zur Prüfung.
„Wir sind alle eine große Familie und haben keine Geheimnisse. Wir sprechen offen über alles. Ehrlichkeit wird hier groß geschrieben. Alle, die du hier siehst, durchleben gerade das gleiche wie du oder haben es durchlebt. Sie können dich führen, lenken und dir bei allem, was vor dir liegt, helfen. Das erste, das du lernen wirst, ist die Bedeutung der Gemeinschaft. Du bist nicht alleine.“ Sunshine lächelt mir aufmunternd zu, als sie bei einer Glaswand anhält und ihre Hand auf eine kleine Anzeigetafel presst.
Kurz leuchtet der Bildschirm grün auf, dann surrt es und ein Teil der Glaswand verschwindet in der Decke. Alles, was vorher nur ein bewegtes Stillleben gewesen ist, bekommt Volumen, einen Soundtrack. Stimmen sprechen leise miteinander, im Hintergrund höre ich das Rauschen eines Wasserfalls und das Zwitschern von Vögeln. Mädchen und Frauen stehen nach Größe sortiert wie Soldaten vor mir. Alle tragen sie die gleiche weiße Tunika und ein weißes Armband um ihr linkes Handgelenk.
Ich weiß nicht, wo ich mich hinwenden soll und meine Augen begegnen einem wunderschönen Hellblau und Grübchen kommen zum Vorschein. Ein Lächeln, bezaubernd und verboten niedlich. Mein Herz schmilzt und die Angst fällt von mir ab. Ich kann ihr Lächeln nur erwidern.
„Hallo meine Schäfchen, das ist Oktober Montag. Seid freundlich und hilfsbereit zu ihr. Jeder von euch weiß, wie schwer die ersten Tage sind. Also, wer möchte die Patenschaft für Oktober Montag übernehmen?“
Verlegen blicke ich zur Seite, als schon eine Hand eifrig hochschießt und ich bin glücklich, als die junge Frau mit den Grübchen und den blauen Augen eifrig winkt. Erleichterung füllt meine Brust. Es ist unfair, aber die anderen machen mir Angst, sie sehen aus, wie ich mich fühle: leer.
„September Freitag …“
„Ich heiße jetzt Dannie!“, fällt September fröhlich Sunshine ins Wort. Sunshine verdreht die Augen und erwidert: „Der wievielte Name ist das jetzt?“
„Nummer 23“, sagt Dannie, ohne ihr Lächeln abzulegen.
„Wegen dir wird noch eine maximale Namenszahl festgelegt.“ Auch wenn Sunshines Worte hart klingen, so ist ihr Lächeln liebevoller, als ich es bisher gesehen habe.
„Bei diesem habe ich ein gutes Gefühl“, erwidert Dannie leichtherzig.
„Also gut, Dannie, du kennst ja die Aufgaben eines Paten. Oktober Montag, Dannie wird dich zu ihrem Stundenplan mitnehmen, bis du deinen eigenen bekommst. Folge ihr einfach. Sie wird all deine Fragen beantworten.“
Und in diesem Augenblick glaube ich an Sunshines Worte und lege alles, was mich im Moment ausmacht, vertrauensvoll in Dannies Hände. Als die anderen vorgestellt werden, entgeht mir nicht, dass wir einen Jahreszyklus bilden. Von Januar bis Dezember ist alles vertreten. Bin ich der Ersatz für den vorhergehenden Oktober? Falls ja, was ist mit meiner Vorgängerin geschehen?
Sunshine lässt uns eine Stunde zum Kennenlernen, bevor der Tagesablauf beginnt. Dannie scheint mit ihrem Redeschwall die Stille und Zurückhaltung der anderen übertönen zu wollen. Ich versuche zuzuhören, doch mehr als Wortfetzen dringen nicht zu mir durch.
„… Ruhe findet man hier genug … wenig Aufregung … interessanter Unterricht … regelmäßige ärztliche Untersuchung … freundliche Lehrer … langweiliges Essen … große Bibliothek … zu wenige Kinonächte und Tanzabende…“
Mein Kopf schwirrt und ich kann Informationen nicht von Meinungen und Wertungen trennen. Alles verschwimmt zu einer homogenen Masse. Dannies Stimme wird Teil der Hintergrundgeräusche. Alles, woran ich denken kann, ist, dass ich an einem Montagmorgen im Oktober wiedergeboren bin und in kurzer Zeit mein erstes Frühstück zu mir nehmen werde. Nach einem Anker suchend, hafte ich meinen Blick an das Abteil, das man mir zugesprochen hat, konzentriere mich auf den wenigen Raum, der nur für mich bestimmt ist.
Mein Platz in dieser seltsamen Gemeinde.
Ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Neutral, kahl und weiß. Nichtssagend. Mein Blick schweift zu den anderen Betten und Dannie zählt sofort auf, wer wo schläft. Das System ist simpel wie die Namensgebung. Dannie ist die einzige, die ihren Namen geändert hat. Rechts neben mir ist Novembers Bett. Obwohl sie meiner Vermutung nach fast ein Jahr hier ist, finde ich nichts Persönliches auf ihrem Bett oder ihrem Schreibtisch. Alles sieht neu und unbenutzt aus. Als hätte sich November selbst gerade erst aus dem Ei gepellt. Genauso bei Dezember, Januar, Februar bis hin zu August.
Nur der September ist anders. Dannies Bett ist etwas unordentlicher als die der anderen, Bücher und Hefte liegen wild verteilt auf dem Tisch und geben ihrer Ecke, die direkt neben meiner ist, eine persönliche Note. Es sieht im Vergleich zu den anderen unordentlich aus und doch verwandelt sich bei Dannie Unordnung in etwas Warmes, Vertrautes. Ein Wort sticht wie eine spitze Nadel in mein Herz: heimisch. Heimat … Zuhause.
Ein weiteres Wort, dessen Bedeutung ich nicht ganz fassen kann. Ist dieses nichtssagende Bett mein Zuhause? Mein Zufluchtsort? Sind die Mädchen und Frauen, die mich umgeben, meine Familie? Mein Blick trifft Dannie und die Unruhe verschwindet, wird ertränkt in dem Schwall von Wörtern, aber vor allem in dem aufgeregten Glitzern in ihren Augen und in der Wärme ihres Lächelns. Und ich habe das Gefühl, dass ich mich hier geborgen fühlen könnte.
Doch dann lenkt Dannie meine Aufmerksamkeit auf die Sanitäranlagen. Die Wände um die Duschen sind … durchsichtig! Die Wände um die Toiletten … sind durchsichtig! Ungläubig starre ich Dannie an, die zum ersten Mal den Mund hält und mich genau beobachtet. Etwas Bösartiges leuchtet in ihren Augen auf, als sie mich in einen der vier gläsernen Kuben zieht. Und mein Herz bleibt stehen vor Glück, als sich die Fronte um uns verdunkeln.
Ein glockenklares Lachen schallt durch das Bad.
„Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass wir dies und jenes und das da vor aller Augen machen, oder?“ Ich schüttle lächelnd den Kopf, auch wenn ich mir eingestehen muss, dass ich für kurze Zeit wirklich Angst gehabt habe.
„Du musst jedoch achtgeben! Die Scheiben bleiben 20 Minuten dunkel. Sobald das Licht ausgeht, werden die Scheiben wieder durchsichtig. Egal ob du dieses oder jenes gerade machst. Auch bei den Duschkabinen.“ Ich nicke langsam und bin froh um das kleine bisschen Privatsphäre in dieser gläsernen Welt.
„Ein Bad ist auf drei von uns ausgelegt. Es gibt einen Nutzungsplan und einen Reinigungsplan. Wir halten hier alles selbst sauber. Mutter Sunshine erstellt die Pläne. Wenn du also Beschwerden hast, kannst du dich an sie wenden. Auch wenn das nicht viel bringen wird. Glaub mir, ich habe es versucht und bin eine Woche