Jo durfte mit Vaters Kadett zum Getränkemarkt fahren und ein 50-Liter-Fass Ravensberger Pils einschließlich Zapfanlage holen. Dann fuhr die Mutter los um einzukaufen, hauptsächlich Grillfleisch vom Metzger, während Oma Bohnensalat, Rote-Beete-Salat, Tomatensalat, Kartoffelsalat und eingelegten Blumenkohl produzierte. Gottseidank hatte sie am Vortag Brot gebacken, das noch frisch duftete und herrlich schmeckte. Dann wurden Campingstühle und -tische aus der gesamten Nachbarschaft eingesammelt und letztlich eine bunte Lichterkette quer durch das Zelt gezogen.
Jo verspürte vielleicht auch wegen des noch vorhandenen Restalkohols vom Vortag keine besondere Aufregung wegen der erwarteten Gästeschar. Dann fiel ihm aber noch ein spezielles Problem auf, nämlich die Frage der Toilettennutzung. Seine Großeltern wohnten unten im Haus. Sie hatten in der Waschküche noch eine Handpumpe, deren Pumpzylinder und Schwengel mit glänzendem Messing verkleidet sehr schön aussahen, aber nicht unbedingt den städtischen Komfortstandards entsprachen, genauso wenig wie das Plumpsklo, das vom Kuhstall abgetrennt direkten Zugang zur Jauchegrube hatte, ohne Geruchsverschluss. Jo versuchte, sich Vonne auf diesem Donnerbalken vorzustellen. Das ging auf keinen Fall. Er schnitt deshalb aus einer bunten Pappe Pfeile aus, die er durch den Flur, die Treppe hoch bis ins elterliche Badezimmer führte.
Als gegen halb acht die OIs in Langhorst eintraf, war das Bier angezapft und der Grill glühte. Es wurde eine schöne und sehr lange Feier. Jo´s Eltern ließen sich zu Beginn kurz blicken und begrüßten alle. Jo bemerkte bei ihnen eine gewisse Anspannung und Unsicherheit wegen der Gäste. Nach dem Essen musste die Oma noch kommen und Komplimente wegen der außergewöhnlich geschmackvollen Salate über sich ergehen lassen. Es ging dann wieder so bis zum Morgengrauen. Im Verlauf des Abends wurde die Toilettenfrage eher pragmatisch gelöst, indem die Jungs nach links an das angrenzende Roggenfeld pinkelten und die Mädchen rechts in den Hafer. Vonne hielt sich zu Jo auf Distanz. Der kleine Zwischenfall vom Vorabend blieb zwischen ihnen jedenfalls unerwähnt. Das Fass war fast leer als die fröhliche Runde zu Fuß und mit Rädern den Heimweg antrat. Oma hatte die ganze Nacht wohl kein Auge zugetan. Jedenfalls stand sie plötzlich hinter Jo und begann noch in der Morgendämmerung aufzuräumen.
In ähnlicher Weise ging es dann die nächsten Tage weiter. Man traf sich am Abend bei einem Mitschüler und feierte die ganze Nacht durch. Dabei erwiesen sich auch diejenigen, von denen Jo das vorher nicht unbedingt erwartet hatte, als ganz schön trinkfest, insbesondere die Mädchen. Vonne war zwischendurch für ein paar Tage nach London geflogen. Einmal waren sie morgens und halb sechs zum Fabriktor von Schmieder&Söhne gegangen, wo gerade der Schichtwechsel stattfand. Im ziemlich angetrunkenen Zustand hatten sie sich lustig gemacht über die arbeitende Bevölkerung, die hier in die kapitalistische Knechtschaft gezwungen wurde. Jo hatte ein paar Männer aus Langhorst erkannt und sich trotz seines Zustandes ein wenig über diese Überheblichkeiten geschämt. Sein Schwager Harald arbeitete auch dort, aber den sah er nicht, gottseidank.
XIV
Der 22. Juli sollte der letzte Tag für den Abiturjahrgang 1967 am Leibniz-Gymnasium in Lüdecke sein. Dafür waren zwei Veranstaltungen geplant. Am Vormittag dieses sonnigen Samstags fand in der Aula des Gymnasiums die feierliche Verabschiedung mit der Übergabe der Zeugnisse statt. Am Abend sollte der Abschlussball im Schützenhof folgen.
Jo hatte sich auf Drängen seiner Mutter doch in den blauen Anzug gezwängt und eine Krawatte umgebunden. Eigentlich war ihm eher nach seinem schwarzen Rollkragenpullover gewesen. Das wäre eine Provokation der gesamten feierlichen Versammlung gewesen. Aber Jo war im Augenblick auch nach Abgrenzung zu diesem Haufen von Spießern zumute. Seine Eltern hatten angedeutet, dass sie doch sehr stolz auf ihren Sohn waren, und ihnen zuliebe hatte er dann auf einen entsprechenden Auftritt verzichtet. Gemeinsam waren sie zu dritt in Papas Kadett nach Lüdecke gefahren und Jo merkte, dass Vater und Mutter aufgeregt waren - im Gegensatz zu ihm selbst.
Er stellte nach der Ankunft fest, dass sich auch alle anderen Jungs in Schale geworfen hatten mit Anzug und Krawatte. Die jungen Damen trugen dunkle Kleider oder Kostüme. Alle wirkten erwachsen und ernst. Hotzenplotz verteilte an jeden von ihnen eine Schärpe in rotweiß, den Stadtfarben von Lüdecke. So marschierten sie dann unter den Klängen des Schulorchesters in die voll besetzte Aula ein. „Telemann“, flüsterte Yvonne, die auch wirklich alles zu wissen schien. Jo war beeindruckt, denn er wäre sicherlich nicht in der Lage gewesen, Telemann von Beethoven zu unterscheiden.
Der Chef, Dr. Weiser, hielt dann eine Entlassungsrede, bei der er sich direkt an die „lieben Abiturientinnen und Abiturienten“ wandte. Die Inhalte seiner Ausführungen waren aber nicht unbedingt die Sprache, mit der er zu ihnen vordringen konnte. Jo hörte auch nicht richtig zu, als Weiser aus Briefen Mozarts zitierte, in denen es um die Aufnahmefähigkeit und –bereitschaft für geistige Güter ging. „Das Fehlerhafte liegt nicht in dem, was uns begegnet, sondern in dem, wie wir es aufnehmen und weitergeben.“ „Naja“, dachte Jo so bei sich, „da gibt es bei unseren Lehrern sicherlich noch reichlich Verbesserungsbedarf bei der Weitergabe“. Weisers Rede wollte kein Ende nehmen und Jo dachte an seine Eltern, die von diesem humanistischen Geschwafel vermutlich überhaupt nichts verstehen würden.
Danach kamen die üblichen Grußworte von Schulsprecher, Bürgermeister und Schulpflegschaftsvorsitzenden. Dann sprach auch noch Yvonnes Vater, in welcher Funktion auch immer. Er meinte, aus den Abiturienten würden sich die zukünftigen Eliten des Landes rekrutieren. „Führen Sie unsere Gesellschaft in eine bessere Zukunft“, so sein Credo, mit dem er bei den Erwachsenen brausenden Applaus erntete. Jo fand sich mittlerweile auch schon ganz gut, aber mit dem Begriff der Elite konnte er für sich persönlich nichts anfangen. Dann kam die Zeugnisausgabe. Jeder wurde einzeln aufgerufen, musste nach vorne auf die Bühne kommen und erhielt vom Klassenlehrer das Abi-Zeugnis. Als Jo zu Hotzenplotz kam und der ihm seine feuchte Hand zur Gratulation gab, dachte er nur ganz kurz „Arschloch“. Ob dieser Gedanke sich noch auf seine Zunge übertrug, konnte er hinterher nicht mehr genau nachvollziehen, aber im Prinzip hätte er keine Hemmungen gehabt, dem Assessor ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Zum Abschluss gab es dann noch die Buchprämien für die Klassenbesten. Es bestand von vorneherein kein Zweifel, dass in der OIs dieser Preis an Yvonne ging, die einen Schnitt von 1,3 hatte und damit das beste Zeugnis des gesamten Jahrgangs.
An dieser Stelle der Verabschiedungen dankten die Schüler üblicherweise ihren Klassenlehrern für die Betreuung mit einem Blumenstrauß. Auf den langen Feiernächten hatte man in der OIs heiß diskutiert, wie man mit Hotzenplotz in dieser Situation umgehen solle. Da war ja noch eine Rechnung offen; das hatte niemand aus der Klasse vergessen. Ohne dass hinterher noch klar war, wer der Urheber der Idee gewesen war, fanden alle die gefundene Lösung genial. Yvonne war ausgeguckt worden, Herrn Studienassessor Mönkeberg eine Blume zu überreichen. Allerdings handelte es sich dabei um einen stattlichen Kaktus der Art Echinocactus Grusonii, der auch Schwiegermutterstuhl genannt wird. Der war mindestens dreißig Zentimeter hoch und wog ein paar Kilo. Für den Ladenpreis hätte man vermutlich einen Riesenstrauß Blumen bekommen. Aber den Spaß war die Angelegenheit wert. Yvonne begann: „Herr Mönkeberg, zwei Jahre im Leben eines Menschen können als ein kurzer oder auch ein langer Zeitraum empfunden werden. Uns in der Prima kam die Zeit in der Schule schon sehr lang vor. Sie waren in dieser Zeit unser pädagogischer Mentor und Begleiter. Für beide Seiten war es ein Novum. Das Abitur machten wir zum ersten und vermutlich einzigen Mal; und sie waren zum ersten Mal Klassenlehrer einer Abi-Klasse. In der Rückschau können beide Seiten wohl feststellen, dass man Manches anders hätte angehen können. Als Abschiedsgruß überreichen wir Ihnen dieses wundervolle Gewächs. Was es symbolisieren soll überlassen wir Ihrer Fantasie. Uns wurde versichert, dass es in seiner unnahbaren Schale sehr robust und langlebig ist. Manchmal soll es bei guter Pflege auch herrliche Blüten hervorbringen und seinen Besitzer damit erfreuen.“ Dann übergaben Jutta und Jo den Topf mit dem Kaktus an Hotzenplotz, dessen Gesichtsfarbe mittlerweile ins Dunkelrote gewechselt hatte. Jo spielte einen Augenblick