Sie sprachen über ihre Erwartungen an den Grenzschutz. Nachdem sie beide ihre Aufnahme zum ersten Oktober bestätigt bekommen hatten, hatten sie den schriftlichen Wunsch geäußert, bei derselben Einheit aufgenommen zu werden. Sie wollten die ganze Angelegenheit möglichst sportlich angehen und ihrer eigenen Linie treu bleiben. Dann ging es auch noch um die Frauen. Jürgen war schon seit zwei Jahren mit Petra zusammen. Er war neunzehn und sie achtzehn. Zwar mochten sie sich sehr, aber ihre Zukunftspläne waren doch unterschiedlich. Jürgen sah das weitere Leben zunächst noch als unbekanntes Abenteuer vor sich. Er wollte aus Lüdecke raus, studieren und etwas erleben. Petra dagegen hatte ihre Lehre bei der Sparkasse schon beendet und schielte nach einer Ehe mit Haus und Kindern. Es hatte in den letzten Monaten schon heftige Diskussionen zwischen ihnen gegeben, wie es nach dem Abi weitergehen sollte. Bei Jo war das anders. Die Beziehung zu Manuela lief eher auf Sparflamme. Klar, sie sah toll aus; und er war stolz, dass er sie erobert hatte. Aber sie war immer so kontrolliert. Obwohl sie fast zwei Jahre jünger war als er, wirkte sie erwachsener. Außerdem hielt sie ihn körperlich immer noch auf Distanz. Aber das erzählte er Jürgen nicht.
Sie überlegten, ob sie nicht vor der Einberufung noch einmal gemeinsam in Urlaub fahren sollten – nur sie beide alleine. Eigentlich kam der Vorschlag von Jürgen. Jo hatte bisher nur spärliche Urlaubserfahrungen. Er hatte ein paar Mal Campingurlaub mit seinen Eltern gemacht, an der Nordsee in Holland. Aber das war schon einige Zeit her. In den letzten Jahren hatte er in den großen Ferien gearbeitet. Nach den Ferien hatte die anderen Schüler der Klasse immer vom Urlaub in Italien oder Spanien geschwärmt. Er hatte dann nichts beizutragen gehabt. Alleine hätte er sich vermutlich auch nicht ins Ausland getraut. Aber Jürgen verfügte über Urlaubserfahrungen. Er war mit seinen Eltern auch schon in Paris und London gewesen. Deswegen glaubte Jo, von einer gemeinsamen Reise profitieren zu können.
Gegen drei Uhr brachen sie wieder auf nach Lüdecke. Als sie eine Stunde später am Leibniz-Gymnasium ankamen, waren die ersten Kandidaten von den Vormittagsprüfungen schon leicht angetrunken. Der sonst immer so vorlaute Jens hatte schon einen glasigen Blick. Er glaubte, in der Mathe-Prüfung versagt zu haben. In dem Fall würde ihm sein Vater, ein ziemlich dominanter Textilfabrikant, die Hölle heiß machen. Jutta hatte eine Physik-Prüfung hinter sich. Wie nicht anders zu erwarten, war es um die Brechgesetze in der Optik gegangen. Vonne hatte eine Lustprüfung hinter sich in Kunsterziehung. Gegenstand war die Renaissancemalerei in den Niederlanden – für Vonne ein Heimspiel.
Dann war Hotzenplotz plötzlich wieder aufgetaucht. Als er Jo sah, kam er sofort auf ihn zugeschossen und polterte in seiner unnachahmlichen Art: „Na, Hans-Joachim, Deutsch, ich hoffe, Sie haben noch den Tag genutzt, um sich auf Deutsch vorzubereiten. Deutsch wird gleich Ihr Schicksal sein.“ Jo hätte ihm am liebsten in den Hintern getreten. Aber er schluckte nur mehrmals und ging schweigend auf den Schulhof.
Pünktlich um achtzehn Uhr wurde er dann von Studienassessor Mönkeberg in den Vorbereitungsraum gerufen. Die Prüfungsaufgabe in Geschichte lautete: „Vergleichen Sie das 14-Punkte-Programm Wilsons mit dem Versailler Vertrag.“ Da der Geschichtsunterricht aus den bekannten Gründen mit dem Jahr 1929 geendet hatte, hatte sich die Klasse ziemlich lange mit dem ersten Weltkrieg und seinen Folgen beschäftigen müssen. Deshalb war das Thema auch für denjenigen, der im Unterricht einigermaßen aufgepasst hatte, keine besondere Herausforderung. Jo war wütend. Er war so wütend auf Hotzenplotz mit seinem Psychoterror, dass er dabei seine Prüfungsangst völlig vergaß. Als er vor der Prüfungskommission Platz nahm, legte er sofort los. Er redete fast ohne Unterbrechung zwanzig Minuten lang. Hotzenplotz unterbrach ihn nicht einmal. Hinterher fragte Jo sich, was wohl passiert wäre, wenn er ihn unterbrochen hätte. Er erhielt für seine Leistung eine Eins. Damit war das Abitur erledigt, jedenfalls der formale Teil. Alle Schülerinnen und Schüler hatten bestanden. Jürgen hatte in Englisch noch eine Drei gemacht, und Jens hatte sich wohl in Mathe mit Rücksicht auf den Vater durchgemogelt. Die Abiturprüfungen der Kurzschuljahre waren damit Geschichte.
Was jetzt folgte war das informelle Abschlussprogramm. Mit dem Beginn der Oberprima hatte sich schon abgezeichnet, dass aus dem losen Verbund von sehr unterschiedlich sozialisierten jungen Menschen eine doch relativ feste Gemeinschaft erwachsen war. Dieser soziale Gedanke wurde jetzt noch gefestigt, zumindest während der nächsten zwei Wochen.
Nach der letzten mündlichen Prüfung hatten zunächst alle Abiturienten ihre endgültigen Zensuren erfahren, wobei die Details an diesem Abend niemanden interessierten. Danach war eine kleine Feier bei Vonne vorgesehen, oder das, was man in großbürgerlichen Kreisen darunter verstand. Bei sommerlichen Temperaturen war auf der weitläufigen Terrasse ein großer Tisch mit bunten Lampions aufgebaut worden. Ein Mann in weißer Kleidung und mit einer Kochmütze auf dem Kopf bediente einen großen Grill und legte Mengen von Koteletts und Würstchen nach. Dazu gab es diverse Salate. Das ganze wurde als Barbecue bezeichnet. Jo sah bei einem Blick durch die offen stehende Küchentür, dass Clarissa bei der Vorbereitung der Speisen half.
Zum ersten Mal sah er Vonnes Vater, eine imposante Persönlichkeit, braungebrannt und mit silbergrauem Haar. Er wurde von allen im Haus als der Herr Professor bezeichnet. „Sie haben nun eine entscheidende Phase in ihrem Leben erfolgreich abgeschlossen. Das sollten Sie heute ausgiebig und fröhlich feiern. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg“, sagte der Professor und rauschte anschließend wieder ab – ein viel beschäftigter Mann.
Damit begann die Party, zunächst noch etwas verhalten. Jeder musste den anderen zuerst seine persönliche Version des Prüfungstages mitteilen. Unter dem reichlichen Zuspruch von Ravensberger Pils ließen dann die Verspannungen nach und man kam zu anderen Themen, nämlich zu den kurz-und mittelfristigen Zukunftserwartungen. Irgendwann saß Vonne neben Jo. Sie hatten sich schon eine Weile über belangloses Zeug unterhalten. Jo hatte unter dem ganztägigen Prüfungsstress, den vielen Zigaretten und Bieren schon einen leicht benebelten Kopf. Deshalb bemerkte er zunächst auch nicht so richtig, wie Vonne ihm ihr Herz ausschüttete. Ihr Freund machte zurzeit ein medizinisches Praktikum an einer Klinik in Bayern. Sie hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen und zweifelte auch, ob er für sie noch der Richtige sei. Ein Bekannter ihres Vaters hatte berichtet, dass er sich an der Uni-Klinik in Münster mit Krankenschwestern vergnügt hätte. Sie hatte dann ihren Arm um ihn gelegt, wie selbstverständlich, und weiter geredet. Jo war etwas verdutzt wegen dieser Offenbarungen. Er wusste auch nicht, wie er darauf reagieren sollte. Was dann passierte, verschlug ihm fast den Atem. Vonne hörte mitten im Satz auf, festigte ihren Griff um seine Hüfte und kam ihm wie aus heiterem Himmel sehr nahe. Ihre Zunge drang zwischen seine Lippen und er erwiderte den Kuss, eine ganze Weile lang. Jo lief trotz seiner schon etwas eingeschränkten Wahrnehmung ein leiser Schauer den Rücken runter. Abrupt löste sie sich von ihm, stand auf und ging zu einem anderen Platz, als wenn nichts gewesen wäre. Er war irritiert.
Diese Veranstaltung war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Feiern, die in den nächsten Tagen noch stattfinden sollten. Dabei wurde spontan geplant, von einem Klassenmitglied zum nächsten zu ziehen. So gegen fünf Uhr morgens hatte man beschlossen, dass der zweite Abend in Langhorst bei Bauers stattfinden sollte. Wie diese Entscheidung entstanden war, ließ sich im Nachhinein nicht mehr genau feststellen. Jo hatte sich aber wegen des eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens zum Schluss der Party offensichtlich nicht dagegen gewehrt. Als er am nächsten Mittag gegen eins in seinem Zimmer aufwachte, konnte er sich an diese Abmachung auch nur noch vage erinnern. Er konnte seiner Mutter dann eine gute und eine weniger gute Nachricht vermelden, die gute war, dass er der Erste in der Familie Bauer war, der das Abitur gemachte hatte und die zweite, dass in ein paar Stunden vermutlich seine Klasse zur nächsten Abi-Feier eintreffen würde.
Diese Meldung versetzte sowohl Mutter als auch Oma in helle Aufregung. Beiden war klar, dass junge Leute aus der Stadt kommen würden, vor denen man sich wegen der ländlich-bescheidenen Lebensart nicht