Dieser jedoch verschaffte sich herrisch Zutritt mit der Bemerkung
„Ich muss ihren Mann sprechen.“
Es war der Ortsgruppenleiter. Er kam in die Küche und sagte zu meinem Vater, er müsse ihn unter vier Augen sprechen. Mein Vater schrumpfte in sich zusammen und schlich mit dem Bonzen ins Nebenzimmer. Meine Mutter blickte schreckensstarr auf die Zimmertür, hinter der die zwei Männer verschwunden waren, und schob nervös ihre Töpfe auf dem Herd hin und her. Als ich fragte, was denn los sei, flüsterte sie heiser, ich solle still sein. Wir lauschten angestrengt, ob wir irgendetwas hören könnten, aber es gab weder Schmerzensschreie noch Hilferufe.
Nach kurzer Zeit ging die Tür wieder auf, und mein Vater hatte seinen feierlichsten Gesichtsausdruck angeknipst: nach innen gerichteter Blick mit leicht belustigtem Zucken in den Mundwinkeln. Die Männer verabschiedeten sich freundschaftlich und stellten ein erneutes Treffen in Aussicht. Als die Haustür sich hinter dem Besucher geschlossen hatte, schlackerte mein Vater mit den Handgelenken und lachte lautlos in sich hinein. Wir stellten ungeduldig neugierige Fragen, aber mein Vater machte es spannend. Mehrfach öffnete er seinen Mund, setzte zum Sprechen an, schüttelte den Kopf, lachte still vor sich hin und platzte dann heraus:
„Die wollen mir das Ritterkreuz verleihen.“
Meine Mutter guckte entsetzt. Für sie war das die Vorhölle. Mein Vater war im Visier der Nazis. Ritterkreuz? Für was denn?
Die Lage in Deutschland war trostlos. Um die Moral im Lande wieder aufzurüsten, hatte der Führer sich entschlossen, eine Ladung Ritterkreuze unter das staunende Volk zu werfen. Zu Fressen gab es nichts mehr, aber Ritterkreuze hatten wir noch genug, und die Bonzen vor Ort mussten geeignete Kandidaten finden, denen sie die Dinger andrehen konnten. Mein lungenkranker Vater hatte gerade sein 25-jähriges Firmenjubiläum hinter sich gebracht, und außerdem arbeitete er in einer Firma, die kriegswichtige Büromöbel herstellte. Daher hatte sein Arbeitgeber ihn für eine Verleihung vorgeschlagen, und der Bonze kam und fragte, ob mein Vater die Ehre annehmen würde. Der sagte ja, was sollte er anderes tun? Wenige Tage später erschien der Bonze wieder; im Schlepptau einen weiteren ebenso miesepetrigen Nazi. Sie verschwanden wieder im Nebenzimmer und hängten meinem Vater die Auszeichnung um. Wir durften nicht dabei sein. Wie mein Vater anschließend berichtete, war das eine peinliche Vorstellung, denn der Bonze hatte versucht, eine feierliche Ansprache zu halten, sich dabei aber ungelenk völlig verheddert.
Fünfundzwanzig Jahre später war mein Vater immer noch in derselben Firma. Die neue Bundesregierung machte es wie die alte: sie verteilte ebenfalls Orden, die hießen jetzt Bundesverdienstkreuz. Jeder, der 50 Jahre in einer Firma gearbeitet hatte, konnte eine solche Auszeichnung bekommen. Der Arbeitgeber meines Vaters wollte für ihn das Bundesverdienstkreuz beantragen, aber mein Vater hielt es für Unfug und sagte das auch. In der Zeitung standen dann Name und Adresse der neu Geadelten. Mit einem kleinen Nebensatz wurde erwähnt, dass ein weiterer Aspirant verzichtet habe. Das empörte meinen Vater. Man hätte auch seinen Namen und seine Adresse angeben müsse, um seinen Protest öffentlich zu machen.
„Hätteste doch ganz gerne mal in der Zeitung gestanden,“ spottete ich. „Du kannst den Orden immer noch anfordern.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Schade“, ätzte ich. „Stell Dir vor, wie toll sich das in Deiner Todesanzeige macht:
Ritterkreuzträger und Träger des Bundesverdienstkreuzes.“
Er stimmte etwas verhalten in unser Gelächter ein, aber selbst diese verlockende Aussicht konnte ihn nicht überzeugen.
Sein Ritterkreuz habe ich übrigens 1945 an einen amerikanischen Besatzungssoldaten verhökert.
Mein Vater
Mein Vater war das jüngste von fünf überlebenden Kindern. Meine Großmutter, die im Alter von zwölf Jahren durch eine Diphterie-Erkrankung schwerhörig geworden war, hatte neun Kinder geboren, von denen vier nach der Geburt starben. Meine Großeltern waren zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus Ostpreußen ins Ruhrgebiet gekommen, wo mein Großvater eine Stelle als Bergmann annahm und im Alter von 50 Jahren bei einem Grubenunglück ums Leben kam. Nach dem Willen meiner Großmutter sollten alle drei Söhne ins Bergwerk. Es gab dort gutes Geld, und sie wollte möglichst schnell ihre Haushaltskasse entlasten. Aber nur der älteste Sohn, der Lieblingsbruder meines Vaters, wurde Bergmann, und auch er verunglückte tödlich mit 50 Jahren, nachdem er vorher schon mehrfach bei Grubenunglücken verschüttet wurde.
Mein Vater weigerte sich, dem Wunsch seiner Mutter zu folgen. Er war ein sehr guter Schüler, und die Lehrer wollten, dass er zum Gymnasium wechsele. Aber seine Eltern waren dagegen. Der Klassenlehrer suchte sie zu Hause auf und wollte sie überreden, dem Sohn doch eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Er werde sich persönlich für ein Stipendium einsetzen. Es war vergebens. Die Großeltern wollten nicht weiter für seinen Unterhalt aufkommen.
So beschloss mein Vater eine Bäckerlehre anzufangen. Er dachte, er könne irgendwann einmal als Schiffskoch die Welt bereisen. Doch beim Reinigen der Knetmaschine geriet seine Hand unter die Messer und verletzte ihn schwer. Er musste aber weiter in der Bäckerei arbeiten. Nur zur täglichen ärztlichen Versorgung konnte er sich frei nehmen. Es war Winter, und es herrschte Eiseskälte. Durch den täglichen Wechsel aus der brütend heißen Backstube in die Winterkälte zog es sich eine Nierenentzündung zu, an der er fast gestorben wäre. Er gab die Bäckerlehre auf und heuerte als Maschinenarbeiter in einem Familienbetrieb an, der Stahlmöbel herstellte. Dieses war eine glückliche Fügung, denn die Firma wurde zum kriegswichtigen Betrieb erklärt. Schon das schützte meinen Vater davor, Soldat werden zu müssen.
Allerdings konnte ich mir meinen Vater als Bäcker oder Koch nie so richtig vorstellen. Er war nicht einmal in der Lage, sich ein Brot zu schmieren. Wahrscheinlich war es auch Bequemlichkeit, denn meine Mutter glaubte, dass es zu den Pflichten einer guten Ehefrau gehöre, dem Göttergatten diese schwere Tätigkeit abzunehmen Als es nach der Währungsreform alles wieder zu kaufen gab und so sensationelle Errungenschaften wie Kaffeefilter auf den Markt kamen, hatte auch meine Mutter ein solches Gerät erstanden, denn schließlich wollte man ja mitreden können, wenn die Leute von dem verbesserten Aroma des Kaffees schwärmten.
Eines Tages, als meine Mutter nicht zu Hause war, beschloss mein Vater, Kaffee zu kochen. Er hantierte am Herd herum, stellte den Filter mit Filtertüte auf die Kaffeekanne, kochte Wasser und schüttete es in den Filter. Dann stand er kopfschüttelnd am Herd und sagte:
„Ich weiß gar nicht, warum das bei der Mutti immer so lange dauert. Das läuft doch prima durch.“
Ich guckte mir die Geschichte an und fragte:
„Wo hast du denn das Kaffeemehl?“
„Ja, unten in der Kanne.“
„Und was meinst Du, wofür der Filter da ist?“
„Äähm..“
Nach seiner Lungenkrankheit sollte er nicht mehr in der zugigen Fabrikhalle arbeiten. Die Firma gab ihm eine Bürostelle, auf der er als Arbeitsvorbereiter die Akkordzeiten festlegte. Er hatte nie eine Refa-Ausbildung gemacht, aber er kannte den Betrieb, und als nach dem Krieg das Familien-Unternehmen an einen Konzern verkauft wurde, stellten die neuen Chefs mit Entsetzen fest, dass alle Daten im Kopf meines Vaters waren und ohne ihn der ganze Betrieb nicht laufen würde. Als sie dann noch feststellten, dass mein Vater nach 50-jähriger Betriebszugehörigkeit bald pensioniert würde, gerieten sie in Panik und beknieten ihn, doch noch ein Jahr länger zu bleiben. Das tat mein Vater gern. Er bekam seine Rente und nach den damaligen Bestimmungen sein ganzes Gehalt steuer- und abgabenfrei dazu. Nach einem entbehrungsreichen Leben hatten meine Eltern jetzt im Alter die Mittel, um sich einige zusätzliche