»Schau mal zum Fenster raus! Der Nebel ist noch viel schlimmer geworden. Das sieht aus wie in einer Waschküche.« Charlotte zog die Gardinen des Küchenfensters zur Seite.
Ella spähte nach draußen, sah aber nur ihr eigenes Gesicht im Fenster spiegeln. Dahinter türmte sich eine dicke, graue Front. »Du liebe Zeit, das sieht wirklich schlimm aus. Ich dachte, ich gehe schnell zu den Nachbarn und frage, ob ich telefonieren darf.«
Charlotte schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Familie Müller rechts ist im Urlaub, genauso die Föttingers auf der anderen Seite.«
»Ich probiers trotzdem«, sagte Ella, »irgendjemand wird doch zu Hause sein und ein funktionierendes Telefon besitzen.« Sie lief die Stufen nach oben zum Badezimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür und besah sich ihre Bluse und die Hose auf der Wäscheleine. Alles sah normal aus, kein Blut war zu sehen. Erleichtert nahm Ella die Sachen von der Leine und zog sich an. Die Bluse war noch ziemlich feucht und die Hose klebte ihr unangenehm an der Haut, aber das war ihr egal. Wirklich komisch, dass ihre Mutter so spät noch nicht zu Hause war. Sie musste sich doch Sorgen machen und auf ihren Anruf warten. War sie womöglich losgefahren, um ihre Tochter zu suchen? Ella spürte ein nervöses Kribbeln im Bauch. Es wurde allerhöchste Zeit, dass sie hier weg kam. Und dann dieser Geruch hier im Haus! Ella fand ihn ekelhaft. Hier im Bad war er besonders schlimm.
Ella sprang die Stufen hinab und ging zu Charlotte in die Küche. Sie streckte ihr die Hand hin. »Vielen Dank, dass sie mir geholfen haben! Ich muss jetzt wirklich gehen.«
Charlotte schüttelte langsam Ellas Hand. »Besuch mich doch einfach mal«, sagte sie, »es macht mir wirklich große Freude, wenn ich mich mit jemandem unterhalten kann. Und wenn du kein Telefon findest, dann komm ruhig wieder her. Du kannst jederzeit im Gästezimmer übernachten.«
Ella nickte. »Gerne, und vielen Dank!« Sie schnappte sich ihre Tasche und lief mit energischen Schritten zur Haustür. Nichts wie raus hier, dachte sie, öffnete schwungvoll die Tür – und stand vor einer grauen Mauer. Der Nebel war so dicht, dass sie nicht einmal die wenigen Stufen, die in den Vorgarten führten, unter sich erkennen konnte. Hinter ihr beleuchtete das Licht aus der Diele das Grau, konnte aber nicht weiter als bis zur Türschwelle vordringen. Ella tastete vorsichtig mit dem Fuß nach der ersten Stufe, aber schon nach dem kleinen Vorwärtsschritt umschloss sie der Nebel unglaublich feucht und kalt. Schon wieder klebten Bluse und Hose an ihr. Sie zitterte vor Kälte. Es war so feucht, dass sie kaum Luft holen konnte. Hinter ihr erschien ein Schatten. Erschrocken fuhr sie herum. Charlotte stand in der Tür und spähte hinaus. »Das ist zu gefährlich, Kind. Da kannst du nicht hinaus. Du würdest dich ja schon im Vorgarten verirren.«
Ella biss die Zähne zusammen. Warum nennt sie mich dauernd Kind? Ella! Ich heiße Ella!, dachte sie. Aber sie musste Charlotte recht geben. Es war unmöglich, hinauszugehen. So einen dichten und feuchten Nebel hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte das Gefühl, Wasser einzuatmen. Was mach ich denn jetzt nur, überlegte Ella verzweifelt, eigentlich will ich einfach nur nach Hause. Aber dieser Nebel war geradezu unheimlich. Sie fröstelte. Sollte sie wirklich hier übernachten? Entschlossen drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. »Ich würde Ihr Angebot doch gerne annehmen«, sagte Ella niedergeschlagen.
»Natürlich, Kind, eine gute Entscheidung.« Charlotte schloss energisch die Haustür.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache.« Ella blickte die alte Frau entschuldigend an.
Charlotte lächelte. »Mach dir keine Sorgen, Kind. Ich bin froh, so nette Unterhaltung zu haben. Hier im Haus ist es viel zu ruhig. Komm! Wenn du magst, zeige ihr dir das Haus und richte dir dann das Gästezimmer.«
Ella nickte neugierig. Das Haus würde sie sich gerne anschauen.
Charlotte führte sie den Flur entlang und öffnete die Tür neben der Küche. »Hier, das ist das Esszimmer. Ich benutze es schon sehr lange nicht mehr. Es ist viel zu groß für eine Person und in der Küche isst es sich wesentlich gemütlicher, vor allem wenn man alleine ist.« In dem Raum stand ein großer, polierter, dunkler Holztisch mit gedrechselten Beinen, darunter waren vornehme Stühle mit hoher Lehne geschoben. Eine riesige Pendelleuchte spendete helles Licht und an einer Wand gab es eine Anrichte, auf der zwei große silberne Kerzenleuchter standen. Die dicken Übervorhänge waren fest zugezogen und alles roch muffig und feucht. Charlotte ging weiter und öffnete die nächste Tür. »Das hier ist das Wohnzimmer.« Sie drückte den Lichtschalter und der Raum wurde in helles Licht getaucht. Hier nahm ein riesiges, altes Sofa, das aussah, als würde man darin versinken, die gesamte Wand ein. Davor stand ein langer, niedriger Couchtisch, auf dem ein bestickter, verblichener Tischläufer lag. In einer Ecke stand ein großer, bequem aussehender Sessel und an der hinteren Wand gab es einen wuchtigen Wohnzimmerschrank mit vielen Schnitzereien aus fast schwarzem Holz. Von den Fenstern war nichts zu erkennen. Dicke Vorhänge im Blümchenmuster verhüllten fast die komplette Wand. Der Raum machte auf Ella einen völlig überladenen Eindruck.
»Das war das Erdgeschoss, hier gehts noch in den Keller.« Charlotte deutete auf eine Treppe, die nach unten führte. »Dort unten sind nur die Waschküche und der Heizraum.« Ein erstickend bitterer Geruch stieg Ella in die Nase. Da unten stinkts ja entsetzlich, dachte sie und hätte sich am liebsten die Nase zugehalten.
»Ich zeig dir noch den ersten Stock«, sagte Charlotte. Sie ging voran die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk deutete sie auf die Tür geradeaus. »Das ist das Bad, das kennst du ja schon.« Charlotte drehte sich um. »Das hier ist mein kleines Wohnzimmer. Das ist viel gemütlicher und netter als unten der große Raum. Hinter dieser Tür ist mein Schlafzimmer, und der nächste Raum wird für heute Nacht dein Zimmer sein.« Sie öffnete die Tür, zog sie einladend weit auf und knipste das Licht an. »Das war das Zimmer meiner Tochter Elisabeth.« Ella sah sich neugierig um. Es sah so gar nicht nach dem Zimmer eines kleinen Mädchens aus.
Charlotte bemerkte ihren Blick. »Ich habe damals alle Sachen von Elisabeth in den Keller geräumt. Es tat mir einfach zu weh, jeden Tag ihre Spielsachen und ihre Kleider zu sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, nickte Ella mitfühlend.
Charlotte sah sich traurig um, dann richtete sie sich energisch auf. »Ich habe dir das Bett frisch bezogen und ein Nachthemd herausgelegt. Jetzt schlaf gut und denk dran: Was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.« Langsam ging sie hinüber zu ihrem kleinen Wohnzimmer.
»Gute Nacht, Charlotte, und vielen Dank!«, rief Ella ihr hinterher.
Ella hielt das Nachthemd hoch, das ihr Charlotte auf das frisch bezogene Bett gelegt hatte. Es war bodenlang, roch frisch und sauber, war aber für die warme Jahreszeit eigentlich viel zu dick. Ella zuckte mit den Schultern und tauschte ihre Kleidung mit dem altmodischen Nachthemd. Sie war hundemüde und konnte kaum mehr die Augen offen halten. Eigentlich würde sie sich im Bad gerne noch frisch machen – Zähneputzen und die Toilette benutzen, bevor sie sich schlafen legte, aber der Schreck von vorhin saß ihr immer noch in den Knochen.
Sie strich die Gardine zur Seite und sah aus dem Fenster. Eine dichte, dunkle Masse schien mit aller Kraft gegen die Scheibe zu drücken. Ella schauderte und ließ den Vorhang schnell wieder zufallen.
Sie setzte sich aufs Bett, barg das Gesicht in den Händen und ließ den Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Wie hatte es nur passieren können, dass sie gezwungen war, heute Nacht in diesem alten Haus zu übernachten. Erst der Überfall und jetzt noch dieser schreckliche Nebel – heute war definitiv kein guter Tag gewesen. Morgen konnte es eigentlich nur besser werden. Sie musste unbedingt ihrer Mutter Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. Und sie wollte ihren Chef fragen, ob sie kurz von der Arbeit weg konnte; sie musste unbedingt vormittags noch zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Ella seufzte. So gerne läge sie jetzt zu Hause in ihrem eigenen Bett. Sie könnte noch ein bisschen Musik hören oder sich einfach vom Fernseher berieseln lassen. Naja, es nutzte ja nichts, zumindest hätte sie dann morgen den kürzesten Arbeitsweg aller Zeiten. Sie stemmte sich hoch und machte sich auf den Weg ins Bad.
Kapitel 4