Kapitel 2
„Hat Bianca sich mittlerweile gemeldet?“, frage ich Chris, nachdem Fletcher wieder fort ist.
Chris seufzt traurig. „Nein“, antwortet er knapp, und ich mag nicht weiter nachfragen.
Ich bin schuld daran, dass seine Schwester den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Seit meiner Vollmondzeremonie meldet sie sich nicht mehr und reagiert auch nicht auf unsere Anrufe. Es bricht Chris das Herz, seine einzige Schwester und seine Nichte Riva nicht mehr zu sehen. Ich habe ihnen allen nicht nur den Bruder genommen, indem ich ihn in einer anderen Zeit in der Wildnis zurückgelassen habe, sondern habe auch noch meinen Gefährten seiner Schwester beraubt, da sie ihm nicht verzeihen kann, dass er trotzdem noch zu mir steht.
Chris hingegen versteht, dass ich Arturo nicht mitbringen konnte. Er weiß, wie schwierig sein Bruder ist und kann sich gut vorstellen, dass er sich einem anderen Rudel von Werwölfen angeschlossen hat, ohne mich zu informieren. Genauso hat er es bereits gemacht, als er sich gegen das Mannwolf-Dasein entschied und stattdessen zum schwarzen König überlief: Eines Tages war er einfach weg, ohne eine Notiz zu hinterlassen. Erst Jahre später fanden Chris und Bianca heraus, wo Arturo sich aufhielt und dass er kein Mannwolf mehr war, sondern zur dunklen Seite gewechselt hatte.
Zwar ist Chris traurig, dass er Arturo nie wiedersehen wird, aber er macht mir daraus keinen Vorwurf. Vor ein paar Wochen sagte er zu mir, dass er froh sei, dass ich auch ohne Arturo zurückgekehrt sei, denn wenn ich versucht hätte ihn zu finden, hätte ich womöglich den Zeitpunkt verpasst, indem mein Ich aus der anderen Zukunft mich in die Gegenwart zurückholte. Und dann hätte Chris nicht nur seinen Bruder, sondern auch seine Gefährtin verloren, und der schwarze König wäre noch immer an der Macht.
Ich glaube ihm und seitdem sprechen wir kaum noch über das Thema. Bloß alle paar Tage frage ich, ob er etwas von Bianca gehört hat, doch immer ist die Antwort „Nein.“
Seit ein paar Wochen formt sich in meinen Gedanken eine Idee. Allerdings ist sie so abstrus und wirr, dass ich noch nicht mit Chris oder sonst irgendjemandem darüber gesprochen habe. Ich möchte die Scherben, die das Leben und Ableben meines Vaters hinterlassen haben, aufkehren. Aber dazu muss ich in sein Schloss, wo auch immer es sein mag. Mir ist bewusst, dass jeder, inklusive meiner Tante Elvira, Chris und Fletcher, mich für verrückt erklären würden, wenn sie von meiner Idee wüssten. Allerdings scheint es mir fast so, als wäre ein Besuch im verlassenen Schloss meines Vaters, die einzige Möglichkeit, alles wieder gutzumachen. Vielleicht finde ich dort Mario und kann ihn befreien. Aber nicht nur ihn, sondern auch die weißen Vampire, die sich im Keller des Schlosses in Käfigen befinden, könnte ich freilassen. Es ist sogar meine Pflicht als weiße Königin, meine Untertanen zu retten, und in den Büchern, die mein Ich aus der anderen Zukunft mir hinterlassen hat, habe ich wahrscheinlich auch einen Zauber gefunden, mit dem ich das Schloss aufspüren kann. Und auch wenn Zeitreisen nur für schwarze königliche Hexenblütler funktionieren, kann es nicht schaden, mein Glück an der Zeitreisetür im Schloss zu probieren. Vielleicht habe ich Glück und gelange so zu Arturo und kann Bianca beweisen, dass es ihm gut geht. Allerdings ist es noch nicht an der Zeit, meinen Plan den anderen mitzuteilen. Dafür muss er ausgefeilter und ich mir meiner Sache noch sicherer sein. Vorher würde Chris dem Ganzen gar nicht zustimmen.
„Worüber grübelst du?“, fragt Chris und sieht über den Rand seines Laptops zu mir herüber.
Ich schüttle mit dem Kopf und lächle. „Über nichts Bestimmtes“, lüge ich. „Was machst du da?“
„Ich schreibe Rechnungen. Seitdem ein gewisser Jemand die Dämonen mit der Tötung dutzender Urdämonen eingeschüchtert hat, ist es ziemlich ruhig geworden und ich bin auf jede Zahlung meiner Kunden angewiesen.“
„Wer macht denn so etwas?“, frage ich gespielt schockiert.
„Ich weiß auch nicht“, grinst er und reibt sich das Kinn. „Aber wenn die dunklen Wesen nicht bald wieder aus ihren Löchern kriechen, dann ist mein Geschäft ruiniert.“
„Ach was, so schlimm kann es doch nicht sein“, sage ich, stehe auf und laufe zu ihm.
Mit ernsterer Miene spricht er weiter. „Doch, leider schon. Früher hatte ich drei bis vier Aufträge pro Woche. Momentan kann ich froh sein, wenn ich so viele im Monat habe.“
Ich lehne mein Kinn auf seine Schulter und blicke auf den Bildschirm, während ich die Arme vor seiner Brust verschränke. „Früher hast du nie Rechnungen geschrieben, sondern es den Kunden überlassen, dich ausreichend zu bezahlen, oder?“
Er nickt. „Ja, vor ein paar Monaten konnte ich von dem, was die Klienten mir freiwillig gaben, gut leben. Und wenn mal einer nichts bezahlen konnte, war das auch nicht weiter schlimm. Nun muss ich allerdings Rechnungen und Mahnungen verteilen.“
„Das tut mir leid“, entschuldige ich mich und lege meine Lippen an seine Wange.
Er dreht sich zu mir um und zieht mich auf seinen Schoß. „Nein, das ist Unsinn. Du brauchst dich nicht entschuldigen, weil du das Böse eine Zeitlang vertrieben hast! Ich denke nur, dass ich vielleicht wieder einen normalen Job annehmen sollte.“
Perplex sehe ich ihn an. „Ein Mannwolf an der Supermarktkasse? Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen!“
Chris lacht und drückt mich dichter an sich. „Nein, das kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber ich habe früher schon mal als Tischler gearbeitet.“
Ich nehme Chris Hand in meine Hände. Ein paar Farbkleckser zieren seinen Zeige- und Mittelfinger, da er gestern Abend noch an einem Ölgemälde gearbeitet hat. Ansonsten sind seine Hände makellos. Ohne Schlieren und Schwielen, die zarten Hände eines Künstlers. Nur hier und da sind ein paar helle Narben, die von den Kämpfen mit Dämonen zeugen.
„Warte doch noch ein wenig, bevor du dir einen Job suchst. Und so lange beteilige ich mich an den Kosten. Immerhin bin ich hier quasi eingezogen!“
Natürlich schüttelt Chris mit dem Kopf und lehnt mein Angebot erstmal ab. Dafür ist er viel zu stolz. „Nein, du brauchst nichts zu bezahlen, um hier zu wohnen, Scarlett. Und so schlimm sieht es finanziell auch noch nicht aus. Ich muss es nur im Auge behalten.“
„Chris, ich zahle seit Monaten Miete für eine Wohnung, die ich so gut wie nie betrete. Und alles was ich esse oder trinke, hast du bezahlt. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich dir nicht mehr auf der Tasche liege“, beschließe ich und lasse ihn mit einem strengen Blick wissen, dass ich keinen Widerspruch dulde.
Trotzdem spricht er weiter. „Also erstens, du liegst mir nicht auf der Tasche. Und zweitens, habe ich auch schon darüber nachgedacht, warum du deine alte Wohnung noch behältst. Eigentlich brauchst du sie doch gar nicht mehr.“
„Aber meine Post wird dahin geliefert“, sage ich und blicke in Chris lächelndes Gesicht.
„Du könntest den Mietvertrag kündigen und ganz bei mir einziehen. Wir melden dich um, machen es ganz offiziell, auch für die Behörden. Und dann wird deine Post an diese Adresse geliefert.“
Ich schlucke und mein Herz beginnt aufgeregt schneller zu pochen. „Denkst du nicht, das wäre etwas verfrüht? Wir kennen uns erst ein paar Monate!“, spricht die Vernunft aus mir, obwohl mein Herz bereits Purzelbäume vor Freude schlägt.
„Scarlett, wir sind Gefährten, und du weißt mittlerweile, was das bedeutet“, sagt er und drückt seine Lippen gegen meinen Hals. „Ich werde nie wieder ohne