>>Baldun! Herr Baldun!<< Die Stimme des Pastors klang durchdringend, aber auch recht milde.
Thomas Baldun fiel darauf nicht mehr rein. Er wusste, wenn der Pastor einen besänftigenden Ton einschlug, war er besonders erbost über irgendetwas. Er schluckte. Was sollte er machen? So tun, als hätte er hier hinten was zu tun, oder sollte er es wagen und schnell über den Zaun klettern? Und wenn der Chef ihn ausgerechnet dabei erwischte? Wie sah das aus? Eine gute Erklärung hätte er für die Kletterpartie nicht gehabt.
Trotzdem wollte er es wagen. Er schwang sein rechtes Bein über den Maschendraht und war froh, dass der Zaun nicht mannshoch war. So einen hätte er nicht geschafft.
Pastor Krech irrte durch den Gang, der zum Jugendcafé führte. Wo war dieser Baldun nur wieder? Er hatte den Eindruck, dass dieser Kerl sich vor ihm versteckte, ab und zu. Aber nachweisen konnte er dieses Verhalten ihm nicht. Bis jetzt noch nicht.
Er hatte keine Lust, auf das Katz und Maus Spiel von Thomas Baldun einzugehen. Wer war er denn schließlich, dass er hinter seinen Untergebenen her turnte? Also, stellte er die Suche nach dem Küster ein und begab sich zurück in sein Büro.
Was soll es? Am Montag ist die Mitarbeiterversammlung, dann würde er dem Küster auf den Zahn fühlen. Aber er vermutete auch, dass dieser sich ab Montag vermutlich krank lassen schreiben würde. Thomas Baldun ging Konflikten mit ihm als Chef aus dem Weg.
Sie waren zwei völlig verschiedene Typen. Roderich liebte die Konfrontation und den Streit. Thomas war eine zurückgezogene Person mit Abgründen, da war sich Roderich ganz sicher. Nur ließ sich der Kerl bei seinen Untaten nie erwischen. Irgendwie war der Küster schlau und hinterlistig. Wenn auch nicht besonders intelligent.
Nein, da war sich Roderich sicher, der Küster konnte ihm nicht das Wasser reichen. Trotzdem gelang es ihm immer wieder, auf unerklärliche Art und Weise, ihm – dem Pastor – zu entwischen. Die dämonischen Auswirkungen waren also auch bei seinen Mitarbeitern zu bemerken.
Hannelore wischte sich den Schweiß von der Stirn. Verdammte Hitzewallungen!, dachte sie. Die Wechseljahre waren kein leichtes Spiel. Aber das wusste sie schon von ihrer Mutter, dass das Jahre waren, die für eine Frau unangenehm werden konnten. Ihre Mutter hatte oftmals in ihren Wechseljahren ein glänzendes Gesicht gehabt – vor Schweiß, auch im Winter. Sie schien ähnliche Anlagen zu haben. Nur die jähzornigen Anfälle ihrer Mutter, die hatte sie nicht. Sie war eher sanftmütig und duldsam. Was wiederum daran liegen könnte, dass das das einzige Verhalten war, was ihre Mutter tolerierte. Still und fügsam sein, war in der Vergangenheit die Methode gewesen, weniger bestraft zu werden. Und wenn Hannelore es richtig betrachtete, war das auch die Methode, um von Pastor Krech Milde erwarten zu können. Sie spielte lieber das dumme, fügsame Duckmäuschen, als diesen jähzornigen, ungerechten Mann zu provozieren.
Abermals versuchte Hannelore zu ergründen, warum so ein Mann in der Kirche war. Sie konnte sich keinen Reim daraus machen. Achselzuckend tippte sie weiter. Der Blick auf ihre Armbanduhr – ein Geschenk ihrer Mutter, das sie mochte, weil es ihr anzeigte, wann sie hier weg konnte – verriet, dass es nur noch eine Stunde bis Feierabend war. Regulär. Was nichts hieß, denn der Chef hatte die Macht, ihr noch Überstunden aufzubrummen.
Sie seufzte. Roderich kam gerne zwanzig Minuten vor Feierabend in ihr Büro und gab ihr noch mal Aufgaben für den Abend auf. Sie erledigte diese stets, ohne zu murren. Sie aufzulehnen, hätte nichts gebracht. Höchstens eine Strafpredigt und dann hätte sie eben doch die Aufgaben, die der Pastor noch erledigt haben wollte, machen müssen.
Da kam ihr eine Idee. Der Hinterausgang. Sie wusste, dass der Küster, diesen manchmal benutzte, um dem Pastor zu entwischen. Auch sie hatte manchmal Dinge außerhalb der Gemeinde zu erledigen. Sie könnte am nächsten Tag berichten, dass sie noch einkaufen war. Für die Kirche versteht sich. Nun, sie hatte letzte Woche zwei Textmarker eigentlich für ihren privaten Gebrauch gekauft. Aber die könnte sie jetzt als „für die Kirche gekauft“ vorschieben .Die Belege, die würde Pastor Krech nicht überprüfen, das war allein ihre Aufgabe als Sekretärin.
Plötzlich gut gelaunt, griff sie die noch funktionierenden Textmarker auf dem Schreibtisch und ließ diese in ihre alte und schon abgewetzten Handtasche verschwinden. Die würde sie mit nach Hause nehmen und die neuen hier her bringen. Guter Plan!, dachte sie bei sich und bekam neuen Schwung für den Abend.
Abellus hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seiner Gefährtin Vorwürfe wegen den Knochen und dem Mark gemacht hatte. Holda war eine freie Koli und durfte selbstverständlich das machen, was sie wollte, wenn es ihrem Gemeinwohl nicht schadete. Und Knochen von Menschen sammeln, war ja nun wirklich kein Vergehen, nur einfach ekelig. Er wollte sie irgendwie besänftigen. Und ihr als Friedensangebot etwas schenken. Aber was?
Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass Holda sich stets über Geschenke aus der Menschenwelt freute, auch wenn sie manchmal schimpfte, dass er das bleiben lassen solle. Aber Weibliche waren eben so sprunghaft.
Er überlegte, was er in der Vergangenheit in dem Gebäude entdeckt hatte und Holda mitbringen könnte. Es musste schon etwas Besonderes sein. Mehr als nur eine Rübe oder eine Blume aus einem Gefäß von oben.
Nachdenklich kratze er sich an seinem kahlen Schädel. Wie konnte er Holda davon überzeugen, dass er in Zukunft nichts mehr sagen würde, wenn sie Knochen sammelte?
Thomas Baldun fasste an sein Hinterteil. >>Mist!<<, entfuhr es ihm. Er hatte sich beim über den Zaun klettern doch tatsächlich die Hose aufgerissen und das an einer Stelle, die unangenehm war und seine weiße Rippenunterhose frei gab. Das war Pech, aber zu verschmerzen, denn Pastor Krech hatte ihn nicht entdeckt. Er kam sich wie ein Lausbub vor und das gefiel ihm. Kleine Streiche spielen, machte ihn jünger. Er sah jetzt seine Lage als vermeintlich Schuldiger in Sachen Kelch demolieren, viel positiver.
Fröhlich pfeifend schlenderte er in Richtung Einkaufszentrum. Er wollte sich sein Feierabendbier holen und sich dann einen gemütlichen Abend vor der Glotze machen. Er hatte den Feierabend an diesem Tag echt verdient, fand er.
Hannelore kicherte vor sich hin. Sie war schon lange nicht mehr durch die Hintertür nach Hause entwischt. Meistens traute sie sich solche Aktionen nicht zu. Doch heute … Sie öffnete die Tür ihres Büros einen Spalt breit und horchte in den Gang hinein. Sie hörte das Brummen des Kühlschranks aus der Mitarbeiterküche. Thomas Baldun hatte mal wieder die Küchentür offen stehen lassen oder es war der Pastor gewesen. Gerüche von vergammeltem Essen stiegen ihr in die Nase. Igitt! Sie unterdrückte einen Hustenreiz und konzentrierte sich darauf, wahrzunehmen, ob der Pastor noch in seinem Büro war, oder weiter hinten in der Jugendküche. Oder in einem der Jugendräume. Wenn das der Fall war, konnte sie nicht zur Hintertür gelangen. Roderich hätte sie sofort bemerkt.
Irgendetwas knackte und ließ sie leicht zusammen fahren. Sie konnte nicht ausmachen, wodurch das Knacken verursacht wurde. Manchmal kamen Geräusche aus den Räumen, obwohl außer ihr niemand mehr im Gebäude war. Es spukte. Es war unheimlich hier, wenn sie abends im Winter, im Dunkeln durch die Vorhalle ging, um durch die Vordertür raus zu kommen. Sie war immer froh, wenn sie dann das Gebäude ordnungsgemäß abgeschlossen hatte und über den schmalen Weg in Richtung Bushaltestelle verschwinden konnte. Auf dem Gehweg traf man auch zur später Stunde meistens noch Menschen. Doch das Gebäude, das zur Kirche gehörte und die Kirche selber, waren abends menschenleer. Und doch schien da ab und zu etwas drin zu sein. Und sie wollte sich nicht ausmalen, was es war. Sie mochte keine Gruselgeschichten. Aber die Kirche war ihr schon bei ihrem Antritt als Sekretärin nie geheuer gewesen.
Abellus erschrak. Das Weibchen der Menschen, das meistens einen Rock trug, sommers wie winters, schaute durch einen Türspalt in seine Richtung. Er konnte sich gerade noch in den Raum retten, ohne gesehen zu werden, wo es immer so verführerisch duftete. Das musste man den Menschen lassen, ihre Speisen waren nicht nur lecker und bekömmlich, sondern ließen auch Abellus das Wasser im Munde zusammen fließen. Er wollte Holda ein Stück Käse mitbringen. Manchmal