Der Nachmittag ging viel zu schnell dahin und wir kehrten zum Herrenhaus zurück, wo uns Philippe euphorisch begrüßte. Ich hätte gerne noch mit Mutter und Sohn den Nachmittagsimbiss eingenommen, den das Dienstmädchen Julie für uns vorbereitet hatte, aber es kam anders. Im Haus erwartete mich eine Nachricht und zwang mich zu einem Besuch beim Standortkommandanten. Ich ließ mir also mein Pferd satteln, um den Hin- und Rückweg möglichst schnell zu absolvieren, aber es nützte nichts, denn ich wurde bei einer Besprechung festgehalten, bei der ich als passiver Vertreter des schwedischen Teils der Koalition auftrat. Den Begriff des passiven Vertreters verwendete man mir gegenüber, weil die letzte Phase des Krieges gegen Napoléon von Preußen, Russen und Österreichern ausgetragen wurde.
Als ich mit der beginnenden Nacht wieder im Herrenhaus eintraf, waren Madame Durant und ihr Sohn längst zu Bett gegangen. Julie bereitete mir aber noch ein Nachtmahl zu, mit dem ich mich in die Bibliothek zurückzog. Da meine Gedanken immer wieder zu Madame Durant wanderten und ich den Tag, den ich mit ihr verbracht hatte, noch einmal Revue passieren ließ, wollte ich mich schließlich doch ablenken. Ich wandte mich also den Büchern zu, die sehr zahlreich auf drei hohen Regalwänden des Raumes verteilt waren. In der ersten Stunde war ich noch eifrig bemüht, die botanischen Werke zu verstehen, um vielleicht mit dem neuen Wissen bei einem weiteren Besuch in der Orangerie zu glänzen. Dann wurde mir aber doch schnell langweilig und meine Gedanken wanderten erneut zu der schönen Bellevie. Ich legte mich schließlich auch zur Ruhe und schlief ein, in Erwartung und Vorfreude auf den nächsten Tag.
*
Das Frühstück nahm ich ganz alleine ein. Ich ließ mir Zeit, in der Hoffnung auf Gesellschaft, die aber ausblieb. Erst als ich mir eine letzte Tasse Kaffee einschenkte, kam ich auf den Gedanken, das Dienstmädchen Julie nach ihrer Herrin zu fragen. Meine Überraschung war sehr groß, als ich erfuhr, dass Madame Durant schon sehr früh aufgestanden und längst zur Orangerie gegangen war, um dort die Arbeiten zu beaufsichtigen. Jetzt hatte ich es natürlich sehr eilig, ebenfalls aufzubrechen, als Philippe in die Küche gestürzt kam.
»Monsieur Hanson!«, platzte es aus ihm heraus, als er mich sah. Er war etwas außer Atem und musste sich erst sammeln, bevor er weitersprach. »Ponto stirbt.«
»Ponto«, wiederholte ich und dachte an ein Pferd.
»Er ist ganz heiß und hechelt so fürchterlich«, fuhr Philippe fort. »Bitte kommen Sie mit, Sie müssen helfen, ihn zu retten.«
Philippe hatte schon meine Hand ergriffen und zog mich halb aus meinem Stuhl. Ich stellte schnell die noch volle Kaffeetasse auf den Küchentisch und folgte dem Jungen, der mich wieder losgelassen hatte und vorausgeeilt war. Wir rannten aus dem Haus und Philippe führte mich zur Scheune und hinein in die hinterste Ecke. Dort kniete er sich schließlich ins Stroh, etwas seitlich, so dass ich auch noch Platz neben ihm fand. In dem fahlen Licht erkannte ich den zusammengekrümmten Körper eines Hundes.
»Oh Gott, er atmet schon nicht mehr«, rief Philippe entsetzt.
Ich berührte das struppige Fell, legte meine Hand auf den Bauch des Tieres und benötigte einige Sekunden um einen schwachen Herzschlag zu ertasten.
»Wir brauchen Licht, wir müssen mehr sehen«, sagte ich, griff unter das Stroh und hob die arme Kreatur auf.
Vorsichtig ging ich durch die Scheune ins Freie, gefolgt von Philippe, der dann noch einmal umkehrte und weiteres Stroh vom Boden aufnahm. Er rannte an mir vorbei, blieb auf dem Hof stehen. Ich trat mit meiner gebrechlich wirkenden Last in die Sonne und sah mich um.
»Zur Tränke, leg das Stroh davor«, rief ich.
Philippe breitete eine Lage aus, rannte dann sofort wieder in die Scheune und kam mit weiterem Stroh zurück, das er zusammengerafft vor seiner Brust trug. Als er die Unterlage vollständig ausgepolstert hatte, legte ich den Hund darauf, der mittlerweile aus seiner Schlaffheit erwacht war und instinktiv begann meine Hände zu lecken. Dies währte aber nicht lange und der jetzt zitternde Körper sank ganz aufs Stroh zurück.
»Was ist mit ihm?«, fragte Philippe aufgeregt. »Ich will nicht, dass er stirbt, er darf nicht sterben?«
Ich schüttelte den Kopf und begann das Tier zu untersuchen. Mit den Händen tastete ich den Bauch und den ganzen Rumpf ab und suchte nach Verletzungen. Ich erinnerte mich an unseren alten Hofhund auf dem Anwesen meiner Eltern in Lomma, der vor Jahren von einem ausgewachsenen Elch einen bösen Tritt erhalten hatte. An unserer Küste kamen Elche nur selten vor, dennoch hatte sich seinerzeit ein riesiger Bulle auf unseren Hof verirrt, wo er gebührend empfangen wurde. Der Elch ließ sich aber nicht vertreiben, teilte vielmehr selbst aus und erwischte den alten Pelle, als dieser sich in einer Hinterhand des ungebetenen Gastes verbeißen wollte.
Die Sache endete dann doch mit dem Abzug des Elchs, den wir später auch nie wieder in unserer Gegend zu sehen bekamen. Auf der Verlustliste stand jedoch unser armer Pelle. Wir brachten ihn ins Dorf zum Barbier, der bei den Bauern auch das Vieh behandelte. Und das, was ich jetzt mit Philippes Hund anstellte, hatte ich bei unserem Barbier in Lomma gelernt. Da ich nirgendswo Blut oder eine offene Wunde sehen konnte, tastete ich nach inneren Verletzungen, fand aber an Rumpf und Gliedern nichts. Zum Schluss nahm ich mir den Kopf vor. Ponto öffnete noch einmal kurz die Augen und ein leises Winseln war zu vernehmen, das aber sofort wieder erstarb.
Auf der Schädeldecke, etwas tiefer neben dem linken Ohr wurde ich schließlich fündig. Ich machte eine Wölbung aus, eine Beule, die von weichem, beinahe schwammigem Gewebe umschlossen war. Ich vermutete eine Ansammlung von Blut, gequetschte Adern, wie sie nach einem kräftigen Schlag beim Menschen zu sichtbaren, blauen Flecken führten. Und wenn es ein sehr heftiger Schlag war, sogar zu Knochenbrüchen. Ich war jetzt sehr vorsichtig, weil ich annehmen musste, dass der arme Ponto einen Schädelbruch erlitten hatte. Ich suchte nach Hinweisen, drückte sanft und dennoch mit ausreichender Kraft, aber zum Glück gab der Knochen an keiner Stelle nach.
Ich deutete auf die Beule an Pontos Schädel, die Philippe jetzt auch sehen konnte. »Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht, ich habe ihn so gefunden, er lag hinter den Büschen dort.«
Philippe zeigte in die Richtung. Es war in etwa die Stelle, an der ich den toten Hund gefunden hatte, unmittelbar bevor ich mich in den Kampf gegen die Räuberbande stürzte. Ich war mir sicher, dass der Hund tot war, und zwar mit aufgeschlitztem Bauch, da ja auch mein Pferd beim Geruch des Blutes zurückscheute. Oder hatte ich mich geirrt, war das Ponto, der aber noch lebte?
»Lag da nicht auch ein toter Hund, dort vor dem Gebüsch?«, fragte ich Philippe.
Er nickte. »Das war einer der Jagdhunde. Die Meute ist vor ein paar Tagen abgezogen, sie haben ihn zurückgelassen und jetzt ist er tot.«
Ich verstand zwar nicht genau, was Philippe meinte, ich hatte mich aber wenigstens nicht geirrt. Jetzt widmete ich mich wieder dem armen Ponto, dessen Augen zu flackern begannen. Sie hatten ihn offensichtlich nicht mit ihren Messern erwischt, ihm dafür aber einen heftigen Schlag auf den Kopf zugefügt. Ich konnte keinen Knochenbruch feststellen, aber das bedeutete nicht, dass die Verletzung harmlos war. Pontos Zustand jedenfalls schien sehr ernst zu sein. Ich legte meine Hand noch einmal auf seinen Brustkorb und spürte wie das Herz in einem Moment raste und im nächsten fast still zu stehen schien.
»Lass ihn uns wieder in die Scheune bringen«, sagte ich schließlich zu Philippe. »Er sollte sehr viel Ruhe bekommen. Suche eine geschützte, versteckte Ecke und stelle ihm reichlich Wasser hin. Vielleicht musst Du ihm auch zu trinken einflößen. Zu essen benötigt er vorläufig nicht, es sei denn, er kann wieder auf eigenen Beinen stehen.«
Während Philippe in der Scheune alles vorbereitete, tastete ich Ponto ein zweites Mal ab, fand außer der Beule am Kopf erneut keine anderen Verletzungen.