Kapitel 5
Charlotte und Sanne standen unruhig im Freien vor der Futterküche. Sie trauten sich nicht, über das, was sie in dem Raum gesehen hatten, zu sprechen, da ein uniformierter Beamter in Hörweite war. Zwar unterhielt er sich grade mit den beiden Kollegen von Sanne, Leo und Tanja, doch vielleicht hörte er ja mit halbem Ohr auch bei ihnen mit. Zudem warfen bereits einige vorbeilaufende Besucher neugierige Blicke zu ihnen. Die Anwesenheit eines Polizisten ließ offenbar Spannendes erahnen. Der Beamte machte sich Notizen zu den Angaben von Leo und Tanja, und bat sie anschließend, an ihre Arbeitsplätze zurück zu kehren. Nachdem die beiden Tierpfleger gegangen waren, näherten sich dem Gorillahaus zwei Männer mit Koffern, die ein paar Worte mit dem Beamten wechselten. Nun trat auch Jankovich gemeinsam mit dem Notarzt und dem Zivi aus dem Gebäude ins Freie. Leise, aber für Charlotte immer noch hörbar, sagte Jankovich zu den Neuankömmlingen: „Ist gut, wir haben uns nicht zu nah am Körper aufgehalten. Wir sind uns ziemlich sicher, dass es kein Selbstmord ist.“ Sofort begannen die Kollegen, aus den Koffern weiße Schutzanzüge zu ziehen und hineinzusteigen. Der Notarzt und sein Hiwi verabschiedeten sich dagegen und zogen mitsamt Notarztkoffer von dannen. Viele Zoobesucher warfen den beiden neugierige Blicke hinterher. Als Jankovich das sah, schüttelte er den Kopf. Dann wandte er sich an die Schwestern. „Gut Sie beiden, ich würde mich gerne in Ruhe mit Ihnen unterhalten. Wo geht das am besten?“ Diese Frage richtete er an Sanne. Sie wies mit dem Kopf nach rechts und sagte: „Drüben bei den Zebras sind Betriebsgebäude, da sollten wir unsere Ruhe haben.“ Jankovich nickte knapp und bat den Beamten mitzukommen. Gemeinsam passierten sie ein Schild, auf dem „Zutritt nur für Mitarbeiter“ stand und liefen zu drei beieinander stehenden grauen Häusern. Sanne betrat das am nächsten liegende Gebäude und die anderen folgten ihr hinein. Sanne sah sich um und zeigte dann auf einen Raum gleich links von ihnen. „Hier ist es meistens ruhig, gehen wir da rein.“ Sie betraten ein kleines Zimmer, in dem einige Tische zusammengestellt in der Raummitte standen. Charlotte und Sanne setzten sich nebeneinander an ein Ende des Pulkes. Jankovich und sein Kollege nahmen ihnen gegenüber Platz. Der uniformierte Polizist schlug seinen Notizblock auf und machte sich bereit, das nun Folgende zu protokollieren. Jankovich sah Sanne an: „Gut, dann starten wir mal mit dem Standardprozedere: Name und Wohnhaft.“ Nachdem Jankovich Sannes Personalien abgefragt hatte, sagte er: „Sie haben also die Leiche entdeckt? Gegen wie viel Uhr war das?“ „Hm... so gegen kurz nach sieben, denke ich.“ „Und das ist normalerweise die Zeit, in der Sie das erste Mal morgens die Küche dort betreten?“ „Hm... ja, schon. In der Regel.“ „Wer kennt Ihre Gewohnheiten, beziehungsweise Ihren Arbeitsrhythmus?“ Sanne blies sich eine Locke aus der Stirn: „Keine Ahnung, alle... wir haben hier seit Jahren unsere Zuständigkeiten, die kennt hier jeder.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Jankovich kniff die Augen zusammen und fragte dann: „Wieso haben Sie Ihre Schwester angerufen? Sie müssen doch wissen, dass man keine Zivilpersonen zu einem Leichenfund dazu ruft?“ Charlottes Kiefer klappte empört nach unten. ‚Ich bin ja wohl keine Zivilperson‘, dachte sie wütend. Jankovich bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick, fixierte aber weiter Sanne. Diese griff in ihre aufgenähte Hosentasche und zog einen zerknitterten Brief hervor. Sie knallte ihn vor sich auf den Tisch, so dass alle Anwesenden gut die auf dem Umschlag stehenden Worte lesen konnten: „Für Sanne – meine große und einzige Liebe.“ Wütend fuhr Sanne Jankovich an. „Weil ich nie und nimmer was mit Konstantin hatte. Und das hier lag unter seiner Leiche auf dem Boden. Wenn Sie mich fragen, will mich irgendwer in Schwierigkeiten bringen. Und ich bin mir nicht sicher, wie sehr Sie mir glauben, dass ich nichts mit ihm hatte. Meine Schwester jedenfalls weiß, dass ich nichts mit ihm hatte.“ Charlotte lief rot an. Zwar konnte sie ihre Schwester verstehen, angesichts der Extremsituation so gereizt zu reagieren. Dennoch war es ihr unangenehm, in welchem Ton Sanne den Kommissar anfuhr. Sie hoffte, dass Sanne sich damit keine Probleme einhandelte. Jankovich ging jedoch regungslos darüber hinweg und steckte eine Hand in seine Lederjacke. Er zog ein Paar weißer Latexhandschuhe hervor, die er sich über seine langen Finger zog. Dann griff er nach dem Brief und öffnete vorsichtig den Umschlag. „Sie haben ihn gelesen, nehme ich an?“, fragte er Sanne. Diese nickte und sagte: „ Natürlich, schließlich steht mein Name drauf.“ Jankovich sah jetzt Charlotte an. „Sie auch?“ Charlotte schüttelte stumm den Kopf. Jankovich räusperte sich einmal und zog dann vorsichtig den Brief aus dem Umschlag. Er las den Inhalt erst im Stillen durch, bevor er ihn laut vorlas: „Meine Liebe, nachdem ich von deiner Verlobung mit Christoph erfahren habe, ergibt mein Leben keinen Sinn mehr. Du warst der Grund für mein Herz, zu schlagen, doch jetzt bin ich verloren. Ich beende mein Leben, doch ich werde es in deiner Nähe tun, damit ich dich in meinem Tod noch einmal sehen kann. Dein dich immer liebender Konstantin.“ Langsam faltete er den Brief zusammen und sah Sanne an. „Stimmt das? Sie sind verlobt?“ Irritiert sah Sanne den Kommissar an und gab dann zögernd Antwort. „Ja, das schon. Seit kurzem.“ Sie verschränkte wieder die Arme. Das Thema Hochzeit passte nicht hierher, nicht in diesen Raum und nicht zu diesen Umständen. Jankovich nickte vorsichtig und sagte: „Dann... Glückwunsch zu der Verlobung. Aber... angesichts der Umstände nochmal zu dem Brief. Stimmt der Rest daraus auch?“ Sanne schüttelte heftig den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Sehen Sie, das macht überhaupt keinen Sinn! Der Konstantin hat mich kaum gekannt und ich ihn ebenso wenig. Und ich frage mich ehrlich gesagt, wie er so schnell von der Verlobung erfahren haben soll, wir haben doch erst gestern Abend mit Freunden und engen Kollegen gefeiert. Und zu meinen Freunden zählt er nicht. Hat er nicht gezählt“, korrigierte sie sich. Der Kommissar schwieg jetzt und sah dann Charlotte in die Augen. Verschämt wich sie seinem Blick aus und ließ ihren Blick von seinen Augen auf seine Haare gleiten. Sie waren etwas länger als bei ihrer letzten Begegnung und begannen sich hinter seinen Ohren zu kräuseln. Jankovich atmete tief durch und sagte dann: „In Ordnung, wir müssen jetzt ohnehin warten, was der Erkennungsdienst dort drüben findet. Ich würde vorschlagen, Sie“, er deutete auf Sanne, „gehen an Ihre Arbeit zurück, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Oder Sie lassen sich krankschreiben. Aber reden Sie bitte nicht mit Ihren Kollegen über das, was Sie gesehen haben. Oder das hier“, er tippte mit den immer noch behandschuhten Fingern auf den Brief. Sanne nickte und sagte: „Kein Problem, ich geh‘ zurück an die Arbeit. Die Tiere brauchen mich.“ Sie umarmte Charlotte mit einem traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Dann stand sie auf, lief hinaus und schloss die Tür hinter sich. Charlotte sah ihr nach und rieb sich dabei mit den Fingerspitzen über die Stirn, als wollte sie ihre Augen mit den Handflächen verdecken. Sie schämte sich, weil sie Sanne überhaupt keine Hilfe gewesen war. Jankovich betrachtete sie. „Ganz schön tough, Ihre Schwester. Sind Sie sicher, dass sie das packt?“ Langsam zuckte Charlotte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ja. Doch. Ich denke schon. Mit dem Tod kommt sie eigentlich ganz gut klar. Schließlich sterben auch die Tiere hier dann und wann.“ In seiner Stimme schwang jetzt ein sanfterer Ton. „Und Sie, packen Sie das? Schon wieder?“ Sie mied weiter seinen Blick und zuckte die Schultern. „Ja, klar, sicher. Muss ja.“ Beinahe so, als wollte er das Gespräch zwischen Ihnen beiden noch nicht beenden, fragte er: „Ich nehme an, Ihnen ist auch aufgefallen, dass der Schemel ein bisschen zu klein für diesen Selbstmord ist?“ Charlotte nickte. „Ja. Und mir gefällt nicht, wie das zusammen mit diesem Brief hier aussieht. Als würde jemand Sanne belasten wollen. Oder zumindest ordentlich in Schwierigkeiten bringen.“ Sie rang sich zu einem knappen Lächeln durch und stand dann auf. Dabei sah sie ihn doch an. „Also, ich schätze das war’s mit unserem Wiedersehen? Oder meinen Sie...“ Jankovich schüttelte den Kopf und sagte sanft: „Nein Frau Bienert, ich denke nicht, dass wir noch ein zweites Mal zusammen arbeiten werden.“ Charlotte nickte wieder und lief langsam zur Tür. Sie spürte, wie ein Gefühl der Schuld schwer wie ein Stein auf ihre Brust drückte. Sanne hatte sie angerufen. Obwohl sie Polizei und Notarzt verständigt hatte, hatte sie trotzdem ihre Schwester angerufen. Weil sie Charlotte brauchte, nicht die Polizei. Und sie hatte vorhin so traurig ausgesehen, als sie sich von ihr verabschiedet hatte. ‚Ich darf sie nicht enttäuschen‘, dachte Charlotte. ‚Ich muss ihr helfen.‘ Als sie schon die Klinke in der Hand hatte, sagte sie, an Jankovich gewandt: „Sie haben ja gehört, was Sanne gesagt hat. Ich weiß, dass sie nichts mit Konstantin hatte. Aber Sie wissen es nicht. Vielleicht sollte ich Ihnen das immer wieder in Erinnerung