Im Vorraum zur Futterküche stand ein junger, pickeliger Zivi in roter Hose und weißem Polo-Shirt. Er sah ähnlich blass aus wie die beiden Tierwärter draußen vor der Tür. Der junge Mann hatte die Hände in den Hosentaschen verstaut und schien darauf zu warten, dass ihn endlich ein neuer Notruf von hier wegbrachte. Er sah erschrocken zu den beiden Frauen, die sich ihm näherten, doch Sanne ignorierte ihn. Sie schritt zielstrebig auf die metallene Tür der Futterküche zu, hinter der der Tote und der Notarzt sich aufhielten. Charlotte zog sie einfach mit sich. Schwach wandte der Zivi ein: „Ähm, hallo, Sie können da nicht rein“, doch schon hatte Sanne die Tür aufgestoßen. Mit einem Mal standen die zwei Schwestern in dem kühlen, gekachelten Raum, in dem eine Neonröhre an der Decke flackerte. Unter anderen Umständen wäre die Kühle im Zimmer angenehm gewesen. Doch die Anwesenheit einer Leiche machte jedes positive Gefühl zunichte. Charlotte registrierte, dass der Notarzt mit dem Rücken zur Tür stand und über ein Klemmbrett gebeugt war. Darauf machte er sich wahrscheinlich Notizen zum Leichenfund. Noch hatte der Mann die beiden Frauen nicht entdeckt, und Charlotte beeilte sich mit rasendem Puls, so viel wie möglich vom Raum aufzunehmen, bevor der Arzt sich umdrehte. Ein schwacher Geruch nach Obst und Gemüse, gemischt mit Heu und einem leichten Chlorgeruch hing in der Luft. An den Wänden nahe der Tür waren verschiedengroße Kartons und Kisten gestapelt, die entweder leer oder mit Lebensmitteln gefüllt waren. Auch eine leere Schubkarre stand in der Ecke. Am gegenüberliegenden Raumende befand sich eine riesige Küchenspüle aus Edelstahl neben einer hölzernen Arbeitsplatte. Oberhalb der Spüle war ein Desinfektionsbehälter mit Pump-Hebel angebracht. Neben der Arbeitsplatte stand ein Kühlschrank und surrte laut, doch er fiel Charlotte schon nicht mehr auf. Sie starrte unausweichlich auf den jungen Mann, der von der Decke hing. Charlotte konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden: Sie fühlte sich von dem Anblick gleichzeitig erschüttert und magisch angezogen. Das Gesicht des Toten sah rot und geschwollen aus, die Augen waren geschlossen, der Mund dagegen geöffnet. Die Zunge war angeschwollen und ragte aus dem Mund. Der Tote hing mit einem Strick um den Hals von der Decke. Dort war das Seil durch einen Haken gezogen und verknotet worden. Um endlich nicht mehr das Gesicht des Toten sehen zu müssen, schloss Charlotte kurz die Augen. Nach wenigen Sekundenbruchteilen riss sie die Augen aber wieder auf und zwang sich dazu, den Rest der Leiche genauer zu begutachten. Der junge Mann trug Arbeitskleidung. Auf der linken Brustseite des Pullovers prangte der obligate Wilhelma-Elefant. Nur an seinen Füßen trug er lediglich Socken, aber keine Schuhe. Die Arme hingen schlaff am leblosen Körper herunter. Unter der Leiche lag ein Schemel, der umgestoßen worden war. Wortlos stieß Sanne jetzt Charlotte an und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Schemel, der umgekippt unter der Leiche auf dem Boden lag. Charlotte blickte ihre Schwester entgeistert an und zog die Schultern hoch, wie um zu fragen: ‚Was soll mir denn auffallen?‘ Sanne deutete unbeirrt auf den Schemel und flüsterte: „Das Teil ist maximal 30 Zentimeter hoch. Schau‘ mal, wie hoch Konstantin hängt.“ In diesem Moment bemerkte sie der Notarzt. Er drehte sich abrupt um und fuhr die beiden an: „Was haben Sie denn hier zu suchen? Raus hier, aber sofort!“ Charlotte nickte und tat so, als würde sie sich abwenden, doch eine Sekunde nahm sie sich noch Zeit, um den Abstand zwischen den Fußspitzen des Toten und dem Fußboden abzuschätzen. Dann begriff sie. Und ihr stellten sich die Härchen auf den Armen auf: Die Leiche hing viel zu hoch für den Schemel. „Raus hier!“, bellte der Notarzt jetzt noch wütender, und Charlotte und Sanne setzten sich in Bewegung. Aber bevor sie nach der Türklinke greifen konnte, wurde die Tür von der anderen Seite aufgestoßen und Charlotte konnte grade noch ausweichen, um nicht die Türkante ins Gesicht zu bekommen. „Frau Bienert! Ich glaube es nicht, was machen Sie denn hier!“ Laut und wütend fuhr Kriminalhauptkommissar Paul Jankovich Charlotte an. Er stieß die Tür noch weiter auf und funkelte Charlotte feindselig an. Im ersten Moment war Charlotte vollkommen überrumpelt. Sie hatte zwar damit gerechnet, dass die Polizei sehr bald nach dem Notarzt am Tatort ankommen würde. Aber mit Paul Jankovich hatte sie nicht gerechnet.
Jankovich und Charlotte hatten sich seit ihrer Begegnung im Krankenhaus letzten Mai nicht wiedergesehen. Dort hatte sie gelegen, nachdem Jankovich sie davor bewahrt hatte, ebenfalls zum Mordopfer zu werden. Er war derjenige gewesen, der sie in letzter Sekunde gerettet hatte. Charlotte hatte sich, zunächst gegen seinen Willen, in die damaligen Ermittlungen eingemischt. Und gemeinsam waren sie so dem Mörder auf die Schliche gekommen. Der Kommissar sah immer noch genauso aus, wie Charlotte ihn in Erinnerung hatte: Er war etwa 35 Jahre alt, groß, schlank, trug eine Lederjacke, die das Waffenholster an der Hüfte verdeckte, und hatte blonde Haare. Seine Augen waren blau, und, wie Charlotte wusste, von langen Wimpern gesäumt. Doch im Moment waren seine Augen im dunklen Flur nicht so deutlich zu erkennen. Außerdem funkelten sie gerade wenig freundlich in Charlottes Richtung. Jetzt, bei ihrem ersten Wiedersehen seit Wochen, überwand Charlotte ihren Schock und versuchte ein zaghaftes Lächeln. Doch der Kommissar ging nicht darauf ein. Er stellte sich seitlich in die Tür und hielt sie mit seinem Rücken offen. Gleichzeitig machte er eine eilige Bewegung mit dem linken Arm und bedeutete den beiden Schwestern damit energisch, die Futterküche zu verlassen. Als Charlotte wie ein begossener Pudel an ihm vorbeiging, nahm sie wieder seinen vertrauten Aftershave-Geruch wahr, gemeinsam mit dem schwachen Duft seiner Lederjacke. ‚Dass er damit bei den Temperaturen nicht eingeht‘, schoss es Charlotte durch den Kopf. Während sie beklommen und stumm neben Sanne im Vorraum ausharrte, konnte sie hören, wie Jankovich sich in der Küche kurz mit dem Notarzt austauschte. Dann zog der Kommissar die Tür wieder hinter sich zu und baute sich vor den beiden Frauen auf. Der pickelige Zivi hatte sich unterdessen in die hinterste Ecke des Vorraums verzogen. Der Kommissar verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen hoch. „Also?“, fragte er forsch. Charlotte sah ihn aus unschuldig aufgerissenen Augen an. „Ehrlich, ich kann nichts dafür, meine Schwester hat mich angerufen!“ Jankovich fixierte daraufhin Sanne. Diese begann zu stottern. „Ja... also... naja... ich brauch‘ halt seelische Unterstützung, schließlich hab’ ich grad ‘ne Leiche gefunden!“ Trotzig verschränkte Sanne nun ebenfalls die Arme vor der Brust und hob das Kinn. Der