Tomoji. Lukas Kellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lukas Kellner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753150796
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       Kapitel 7 - Camille

      Es war Abend geworden. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die großen Altbaufenster in das Atelier des Künstlers namens Jakob. Noch bis vor einer Minute hatte er an einem Bild gesessen. Nur eine kleine Spielerei, nichts Ernstes. Geschwungene Linien interferierten mit geschlagenen Spritzern aus Zyan, Ocker und Zinnoberrot. Eine Hommage an das symbolistische Werk „Der Schrei“, oder viel eher seine Gedanken dazu. Er würde es niemals vorzeigen, geschweige denn veröffentlichen, doch manchmal brauchte er solche Spaßprojekte, um sich wieder seiner eigenen Kunst widmen zu können. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihm zuflüsterte, während er mit wenig Verstand auf einer Leinwand herumkritzelte.

      Es faszinierte ihn, wie es einen in der Kunst, aber auch im Leben, einfach überkam. Wie hilflos man eigentlich war, ohne Rettungsring in strömungsreicher See. Nicht ahnend, wie viele Möglichkeiten vor einem lagen, wie viele Realitäten. Nicht ahnend, wie zerbrechlich und komisch das eigene Leben wirklich ist. Nicht ahnend, auf wen oder was man hinter der nächsten Abbiegung treffen würde.

      Sein Handy begann zu vibrieren, eine halbe Sekunde später folgte der Klingelton. Jakob schreckte auf, weil ihm das Geräusch sehr fremd war. Die meiste Zeit hatte er sein IPhone auf stumm gestellt oder es einfach ganz ausgeschaltet. Aufträge erhielt er in der Regel per Mail oder Brief. Er seufzte, legte den Pinsel in ein mit Wasser gefülltes Marmeladenglas neben der Staffelei und wischte sich die Finger an einem beschmierten weißen Stofftuch ab, das er sich stets über die Schulter legte. So ging er hinüber zum Sofa, ließ sich in den weichen Stoff fallen und blickte vor sich auf den gläsernen Wohnzimmertisch. Zuerst sah er nur sich selbst in der Reflexion der Scheibe, dann wanderten seine Augen nach links auf das Display des Handys.

      Er sah den Namen. Die Entspannung der letzten Stunde fiel ohne Vorwarnung von ihm ab und wich durchdringender Übelkeit. Ohne dass er sich hätte dagegen wehren können, stand er in Gedanken vor ihm. Er war groß, hatte dunkles, streng zur Seite gegeeltes Haar und trug meist einen noblen Anzug. Sein Auftreten war stets makellos, nur der teuerste Zwirn war gerade gut genug. Jakob rang mit sich, blickte Hilfe suchend hin und her, aber nichts in seinem Atelier vermochte ihm einen Ausweg aufzuzeigen. Vielleicht sollte er einfach losrennen. Er fragte sich, wie weit er dann wohl kommen würde. Einige Meter weit bis zum Grundstück des Nachbarn auf jeden Fall. Einen Garten weiter, zu dem kleinen Häuschen mit den Rhododendronbüschen wahrscheinlich auch. Es würde nichts ändern. Wenn er jetzt nicht abnahm, würde er ihn abholen lassen, denn er bekam immer, was er wollte. Immer!

      Jakob spürte es sofort. Ab dem Augenblick, als er auf das grüne Telefonsymbol gedrückt und das Handy zum Ohr geführt hatte, dröhnte es ihm entgegen, wie ein Schlachthorn in nebliger Ferne. Er bebte vor Zorn, gab keinen Laut von sich. So verweilten sie eine Weile, schweigend, nur vom Rauschen der Leitung begleitet.

      Jakob: „Ich hab gerade wirklich keine Zeit, ich ruf später wieder…“

      „Ich mag Katzen nicht, wenn sie sich wehren, das weißt du doch... kleiner Bruder!“

      Jakob biss sich mit voller Kraft auf die Lippen, in der Hoffnung, der Schmerz könne von der Abscheu ablenken, die er empfand.

      „Setzt dich an deinen Computer. Jetzt.“ Hörig, ohne eine Sekunde zu zögern, erhob sich Jakob vom Sofa und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Er gab das Passwort in die Leiste des Bildschirmschoners ein und drückte auf die Enter-Taste.

      „Öffne die E-Mail, die du vorhin bekommen hast, wunder dich nicht über den Absender, sie ist nicht von mir.“

      „Was soll ich damit machen?“

      „Öffne den Anhang.“ Jakob klickte auf das JPEG, das bisher nur als Symbol am Ende des Texts angezeigt wurde. Das Bild öffnete sich und erstreckte sich über die gesamte Größe des Bildschirms. Es dauerte einen Moment, bis Jakob realisierte, was er da gerade vor sich sah. Bevor er sich dem Inhalt des Bildes wirklich gewahr werden konnte, begann sein Körper bereits darauf zu reagieren. Ihm wurde warm. Als gösse ihm jemand kochend heiße Suppe direkt in die Magengrube. Hätte man ihm ein Messer an die Kehle gehalten, hätte er wahrscheinlich dennoch nicht klar benennen können, was ihn an diesem Anblick am meisten störte. Dass er ihm so vertraut vorkam? Oder, dass sein erstes Gefühl nicht Überraschung oder Schrecken war, sondern Eifersucht? Warum empfand er Eifersucht?

      „Was ist das?“, stammelte Jakob, der seinen Blick noch immer nicht vom Display abwenden konnte.

      „Dir müsste das doch gefallen, oder?“, sagte die Stimme an seinem Ohr. Er klang dabei, als würde er gerade die Notdurft eines Tieres begutachten, oder über etwas anderes, abgrundtief Abartiges, sprechen.

      „Ja, sieht aus wie eine von deinen, nicht wahr? Oh, Oh, Jakob, was werden die Leute nur denken, vor allem, wenn sie erfahren, dass… das hier echt ist.“ Jakob konnte ihn zwar nicht sehen, aber er spürte die Gehässigkeit und die Schadenfreude. Sie schrie ihm geradezu entgegen.

      „Richtig, sie werden sofort an dich denken. An dich und niemand anderen sonst, nicht an mich, nur an dich! Ziemlich clever, hm?“ Jetzt wurde er wieder ernst und senkte die Stimme.

      “Du wirst etwas für mich erledigen, nur so kommst du aus der Geschichte raus.“

      „Warum sollte ich dir…“

      „HALT DEIN MAUL, HALT DEIN VERFICKTES MAUL!“

      Seine Faust knallte auf etwas Hartes, man hörte Glas zerbersten. So hatte Jakob ihn noch nie erlebt. Sein Bruder, Thomas Clemens Hulbrecht, war schon immer jähzornig, ehrgeizig und geradezu verbissen gewesen, aber er hatte es noch nie so nach außen dringen lassen wie in diesem Moment. Er schien keinerlei Zurückhaltung mehr zu besitzen und die Kontrolle über sich selbst verloren zu haben.

      Thomas redete weiter, schnaubte aber immer noch, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich: „Glaub mir, du bist der Allerletzte, mit dem ich sprechen will.“, Ekel und Abneigung prägten seine Stimme.

      „Gott, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie du mir am Arsch vorbeigehst. Aber, ich habe keine Wahl. Du bist mein Bruder und du wirst diese Bilder bearbeiten, so wie ich es dir sage. Dann wirst du es weiter verschicken, dahin, wo ich dir sage. Und ansonsten wirst du nichts tun, außer, wenn ich es dir sage. Und vor allem… “ Die letzten Worte waren weniger nüchterne Aussage als viel mehr kalte, überzeugende Drohung.

      „…wirst du pünktlich damit sein. Komm mir nicht mit irgendeinem Kunstscheiß, wie beim letzten Mal!“

      „Und warum sollte ich das tun?“ Gerade als Jakob die Worte ausgesprochen hatte, brüllte es ihm bereits entgegen. Die Wut quoll in seinem Bruder hoch, wie schwarzes Öl aus der Erde, und besudelte alles, was ihr in die Quere kam. Aus irgendeinem Grund gewann sie dennoch nicht die Oberhand, stattdessen hörte Jakob ihn einmal lange und tief ausatmen. Dann war da ein kurzes, gehässiges Lachen. „Oh, ganz einfach. Weil du mich brauchst. Meinen Einfluss, mein Alibi. Was glaubst du, wen sie zuerst befragen werden, wenn sie diese Bilder sehen?“ Jakob hörte ein kurzes, genüssliches Schmatzen.

      „Und, wenn ihnen das noch nicht reicht, werden sie dich spätestens dann im Visier haben, wenn sie sich deine Akte näher ansehen. Wenn sie sehen, was mein lieber, feiner, unbescholtener Bruder das letzte Mal getan hat!“

      Jakob starrte fassungslos ins Leere, konnte aber in Gedanken seinen Bruder genau vor sich sehen. Er hatte schon immer etwas Dunkles an sich gehabt. Man begegnete ihm und bekam Gänsehaut, auch wenn man nicht direkt sagen konnte woran es lag. Vielleicht war es die aufrechte Haltung, vielleicht die dunklen Ringe unter seinen Augen, die immer da waren, egal zu welcher Tageszeit. Vielleicht lag es daran, dass er einem meistens auf die Stirn schaute, wenn man sich mit ihm unterhielt und niemals direkt in die Augen. Nicht aus Schüchternheit oder übertriebener Höflichkeit heraus, sondern als ertrage er den Anblick seines Gegenübers nicht, als sei man etwas ekelhaftes, etwas abartig mickriges, etwas, das seines Blickes nicht würdig war. Jakob konnte beinahe fühlen, wie sein Bruder den Hörer umklammerte, dass das Plastik nur so knackste, mit der flachsfarbenen Krawatte um den Hals, den violett gemusterten Socken an den Füßen und der schwarz-silbernen AppleWatch mit Lederarmband an seinem Handgelenk.

      Sein Bruder hatte immer in die Welt gepasst, in die eigentlich sie beide hineingehörten. In die Welt ihres Vaters.