‚Du Arschloch!‘, war Eliahs erster Gedanke, während er sich erhob und Herbert grimmig anstarrte. Er hatte ihn schon einmal daran erinnern müssen, wer in der Befehlskette über wem stand. Für eine Weile war es dann gut gewesen, in letzter Zeit begann er aber wieder übermütig zu werden. Das nervte ihn, vor allem, weil er Herbert eigentlich sehr gut leiden konnte.
„Übernimm die Übergabe“, murrte Eliah und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: „Pass auf, dass dir nicht wieder schlecht wird.“ Er sah, wie Herbert Luft holte, um etwas Dummes zu antworten, drehte sich instinktiv von ihm weg und sah zu Marvin hinüber, der immer noch am Boden bei einem der Augäpfel kniete.„Hast du alles?“
„Jup!“
„Eck?“
„Oui!“
Beim Hinausgehen warf Eliah der Leiche einen letzten, flüchtigen Blick zu. Sie war eine sehr schöne Frau gewesen. Er hätte zu gerne gewusst, wie sie mit den eigenen Augen ausgesehen hatte.
Im Eck war viel los. Eigentlich so wie immer. Das Restaurant lag in der Nähe ihres Arbeitsplatzes und die Klientel war bunt gemischt. Vom 50-jährigen Harzer bis zum angehenden Investmentbänker, sie alle gaben sich hier die Klinke in die Hand. Besonders groß war es nicht und bot mit seinen sechs Tischen nur einer Handvoll Gästen Platz. Doch kam man ohnehin nicht wegen der Größe, wohl aber wegen des Ambiente her. Das Eck versetzte einen in eine Zeit zurück, als in Gaststätten noch geraucht wurde und es auf der Karte nur Bier, Wein und Limonade zur Auswahl gab. Das dunkelbraune Fensterglas ließ ein Minimum an Tageslicht in den Raum hinein, die Kunstlichtlampen von der Decke mit den smaragdgrünen Schirmen strahlten Tag und Nacht. Stühle, Tische und Bänke waren aus Holz, nicht besonders bequem, aber dafür umso bodenständiger, ehrlicher, eben zweckdienlich. Es war die Art Kneipe, die einen die Zeit vergessen ließ, bei der man nach Stunden des Palaverns, Rauchens und Trinkens hinausschwankte und draußen von überraschend frischer Luft sowie der Vorahnung in Empfang genommen wird, dass einem am nächsten Tag Müdigkeit und Kopfweh begleiten würden.
Doch an diesem Tag konnten Marvin und Eliah nicht lange bleiben, denn sie waren nur für ein schnelles Frühstück gekommen und um sich über diesen Fall auszutauschen. Eliah war es dabei traditionell lieber die ersten Worte bei einem Getränk und etwas Essbarem auszutauschen. Als sie eintraten nickte ihnen die junge Bedienung von hinter der Bar zu.
„Hey Eliah.“
„Julia.“
„Nehmt den üblichen.“ Sie deutete auf den Tisch ganz hinten rechts.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, kam die Kellnerin schon mit zwei großen Tassen dampfendem Kaffee in der Hand zu ihnen.
„Ist gleich soweit, kurz müsst ihr euch noch gedulden!“, meinte sie und schlenderte mit einem Augenzwinkern zurück hinter die Theke. Eliah griff sofort nach seinem Becher und nahm einen kräftigen Schluck.
„Also, Herr Psychologe“, sagte er und zog dabei Luft in seinen Mund ein, um die verbrannten Stellen vom heißen Kaffee etwas abzukühlen.
„Dann fang mal an.“
Marvin hatte genau verstanden, was Eliah von ihm wollte. Tatsächlich hatte er den ganzen Weg über versucht, die vielen Gedanken und Ideen in seinem Kopf zu sortieren, damit der Inhalt seines Kopfs nicht ungefiltert aus ihm heraussprudelte, wie bei einem gebrochenen Rohr im Keller. Er hatte den Hang dazu, sich bei Analysen inhaltlich zu überschlagen, sodass ihm keiner mehr folgen konnte und sich über ihn lustig machte. Er hasste das und es sollte ihm dieses Mal auf keinen Fall passieren!
„Da es sein erstes Opfer zu sein scheint, kann man noch nicht sagen, ob das Geschlecht eine belangvolle Rolle spielt. Es kann aber durchaus der Fall sein! Ich habe die Vita der Dame auf dem Weg gegoogelt. Sie hieß Katharina Bolgur und man würde sie wohl als Vorzeige-Frau bezeichnen: Sie ist eine der erfolgreichsten Anwältinnen des Landes, sie hat ihren Abschluss in München gemacht und sich danach auf Gesellschaftsrecht spezialisiert. Nicht gerade ein typisches Themengebiet für eine weibliche Anwältin. Das ist immer noch eine Welt, die von Männern dominiert wird. Neben dem Job hat sie sich verstärkt für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt. Sie war zum Beispiel eine der eifrigsten Befürworter der Frauenquote in Firmen. Trotzdem kann man den potentiellen Täterkreis nicht nur auf ihre Gegner vor Gericht eingrenzen, dafür ist sie zu bekannt, hier…“. Während er redete, kramte er sein Handy hervor, drückte zweimal auf das Display und streckte es Eliah hin. Auf dem Bildschirm war das Bild einer sehr attraktiven Dame zu sehen, die sich auf einem Liegestuhl sonnte und nur mit einem Bikini bekleidet war. Eliah erkannte die geschwungenen Umrisse des Körpers, der vorhin noch bleich und tot auf einer schwarzen Couch lag.
„Dafür hat sie viel Kritik von anderen Feministinnen geerntet. Dass sie damit das Stereotyp einer Frau erfülle, der Bewegung mehr schade als nutze und so weiter. Ihre Stellungnahme war immer, dass sich als Frau fühlen und Gleichberechtigung miteinander vereinbar wären und nicht zwei verschiedene Dinge darstellen. Gerade das hat sie bekannt gemacht, was man unschwer an der Anzahl ihrer Follower auf Instagram ablesen kann: 80.000 sind allerhand für eine Anwältin!“
„Und schränkt unseren Kreis der Verdächtigen nicht gerade ein“, seufzte Eliah.
„In der Tat. Ich würde nicht ausschließen, dass es sich um einen wirtschaftlich motivierten Mord handelt. Ich werde ihre Fälle überfliegen müssen, befürchte aber, dass sich der Herz-Smiley nicht direkt mit einem ihrer Gegner vor Gericht in Einklang bringen lässt. Außerdem sind das Unternehmer und Bänker, Männer des Geldes, in der Regel also nicht sonderlich kreativ und eher zahlenorientiert. Meiner Meinung nach gäbe es dann auch eher Spuren von klassischer Erniedrigung, was hier nicht der Fall ist. Vorausgesetzt, sie wurde nicht vergewaltigt. Das kann uns dann aber erst die Pathologie sagen.“
In diesem Moment kam die Kellnerin abermals an ihren Tisch. Sie stellte ihnen zwei kalte Teller hin. Vor Eliah stand jetzt seine eigene Kreation: Die Grundlage bildete ein kräftiges, dunkles Brot, gebacken aus Sauerteig. Darauf gebratener Chorizo, Speck und zwei Spiegeleier. Er zögerte keinen Moment und begann damit, das Frühstück in mundgerechte Stücke zu zerschneiden. Genüsslich nahm er den ersten Bissen in den Mund und genoss die salzig-cremige Mischung der Aromen. Die gebackene Waffel vor Marvin wurde keines Blickes gewürdigt. Der argumentierte lieber weiter.
„Der Täter hatte sich selbst einigermaßen unter Kontrolle. So wie ich das beurteilen konnte, gab es keine Anzeichen von unnötiger Gewaltanwendung.“
„Du meinst bis auf die herausgerissenen Augen und der Tatsache, dass man sie erstickt hat?“, hakte Eliah trocken nach, während er einen großen Bissen Brot herunterwürgen musste. Er war davon überzeugt, dass Marvin keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, aber manchmal wirkte er doch zunehmend herzlos. Vor allem, wenn er sich in seinen Theorien verirrte.
„Ja, das ist richtig“, erwiderte Marvin und hielt einen kurzen Moment lang inne, als würde er sich für seine letzten Ausführungen etwas schämen.
„Entspann dich, ich hab schon verstanden. Aber warum glaubst du, dass das Ganze emotionslos über die Bühne gegangen ist?“
„Emotionslos mit Nichten, nein. Aber geplant. Dieser Mord hat gewiss sehr viel Zeit in Anspruch genommen, vor allem im Vorfeld. Der Täter musste ein genaues Bild vor Augen haben, er musste die Herzen beschaffen und sein Vorgehen durchdenken. Mich würde es nicht wundern, wenn er im Vornherein einmal das Büro gesehen hat und bereits wusste, wo er sie ablegen beziehungsweise präsentieren würde. Das Vorgehen erinnert an das eines Regisseurs, der genau weiß, welches Bild er erschaffen will, der komponiert und kreiert. Der Mord an sich war dann nur noch das Abarbeiten des vorgefertigten Plans. Natürlich waren Emotionen im Spiel, aber nur in einem Rahmen, die der Plan zuließ.“
Eliah wusste jetzt worauf Marvin hinauswollte. Er hörte für einen Moment auf zu kauen und sah seinem Kollegen tief in die Augen. Er versuchte, darin eine andere Antwort zu erkennen als die, welche sich ihm bereits beim ersten Anblick der Leiche aufgedrängt hatte. Als er nichts sah, was ihn zufriedengestellt hätte, schnitt er sich ein weiteres Stück von seinem Frühstück ab und führte die Gabel zum Mund.
„Und