Der Alte stierte seinen Sohn dumpf an, dachte nach.
»Ja, das ist möglich«, entschied er dann, schien jedoch gleichzeitig unzufrieden über seine Feststellung.
Die Suppe wurde aufgetragen. Reginald und Silver wünschten guten Appetit, während der Oldman uninteressiert und geistesabwesend abwinkte. Er begann jedoch sogleich mit Appetit zu löffeln und zu schlürfen, dachte stumm über dem Teller brütend weiter über Alioth und dessen Verrat nach. Auf einmal hielt er mit Essen inne, blickte wiederum Reginald mit stieren Augen an und streckte seinen Löffel fast wie ein Messer gegen den Sohn aus. Ein Tropf der Suppe löste sich dabei und fiel direkt in den Teller von Reginald, der dies mitbekam und der sein Missfallen und seine Abscheu durch ein leichtes Rümpfen der Nase auch zeigte.
»Und was machst du nun mit dem alten Alioth?«
Bevor Reginald darauf antwortete, schob er mit Daumen und Zeigefinger seinen Suppenteller erst ein Stück weit zur Mitte der Tafel, als Zeichen, dass er nicht mehr weiter essen würde. Dann erst schaute er seinem Vater tief in die wässrig-blauen Augen, so als suchte er dort nach der Antwort.
»Alioth ist für immer weg. Er ist bereits Geschichte.«
Das Gesicht des Alten wurde hart und zeigte Angriffslust, ähnlich einem Terrier kurz bevor er nach dem Genick der Ratte schnappte, um sie mit einem Biss zu töten. Genau vor diesem Blick, vor diesem Gesicht hatte sich Silver zeitlebens gefürchtet. Der Oldman hatte schon immer alles von seinen Söhnen verlangt und keine Ausreden gelten lassen. Scheiterten sie an einer zu schwierigen Aufgabe, dann bestrafte er sie unerbittlich, kannte keine Gnade, zeigte keine Gefühle. Die Schläge mit dem Rohrstock waren dabei nicht etwa der Ausdruck von Wut und auch nicht aus Hilflosigkeit als alleinerziehender Vater geboren. Für den Oldman waren sie einfach nötig. Das war das Grausame an den väterlichen Strafen, dass sie in den Augen des Alten eine zwingende Notwendigkeit darstellten, als wären sie von Gott befohlen.
»Wer uns bestiehlt, bezahlt dafür.«
Die Stimme des Alten ließ keinen Zweifel aufkommen. Doch Reginald schüttelte ablehnend den Kopf. »Alioth ist bestraft genug. Und es gab auch keinen Diebstahl.«
Die Stimme des älteren Sohnes war klar, fest und ungewohnt präzise. Seine Äußerung erhielt dadurch ein besonderes Gewicht, sollte dem Oldman wohl klar machen, dass nun er, der Sohn, die Führung des Familienkonzerns ganz und gar übernommen hatte und dass sein Vater, der Alte McPhearsen, nicht mehr der Bestimmende sein konnte, nie mehr sein würde.
Ollie Oldman McPhearsen sagte nichts darauf, schluckte nur hart und sein Kehlkopf hüpfte dabei kurz über den Rand seines viel zu weiten Hemdkragens. Er stierte den Älteren noch schärfer an, kniff dabei die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammen, fixierte Reginald, als wollte er ihn mit diesem Blick töten. Und dann wiederholte er mit schwerer Stimme, langsam und keuchend, jedes einzelne Wort betonend: »Wer … uns … bestiehlt, … bezahlt … dafür.«
Reginald hielt dem Blick des Alten diesmal stand. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, kein Augenlid blinzelte. Sekunden vergingen, während Silver fasziniert das gegenseitige Messen der beiden beobachtete. Und auf einmal stellte er verwundert fest, dass ihm der Ausgang dieses Kampfes völlig kalt ließ. Sollte doch Reginald den Alten in die Schranken weisen und die Macht vollends an sich reißen oder der Oldman ein vielleicht letztes Mal über den älteren Bruder triumphieren. Was spielte das für ihn schon für eine Rolle?
»Ich hab Alioth genug Angst eingejagt, Vater. Alioth mag früher einmal ein scharfer Hund gewesen sein. Doch seine beste Zeit ist längst vorbei und er wurde ängstlich und vorsichtig. Seine Gläubiger werden ihn vollends auseinandernehmen. Ich vergreif mich nicht an ihm. Lass doch die Ratten den Rest besorgen.«
Die Worte des älteren Bruders wirkten auf Silver wie eine Grabrede auf den eigenen Vater und selbst der Oldman starrte Reginald verwundert an. Dass sich der ältere Sohn nicht mehr seinem Wunsch beugen wollte, hatte er nicht erwartet. Doch nun zeigte sich die ganze Gefährlichkeit des Alten. Denn er zog seinen vorgebeugten Oberkörper ein Stück zurück und setzte sich wortlos wieder gerade vor seinen Suppenteller, schob auch den Löffel wieder hinein und begann erneut zu Schlürfen und zu schlucken, so als wäre nichts gewesen.
Silver und Reginald tauschten einen brüderlichen Blick aus, verstanden sich wie die meiste Zeit über ohne Worte zu tauschen. Ja, Reginald würde in Zukunft wachsam bleiben müssen. Der Alte hatte mit Sicherheit noch längst nicht aufgegeben, verließ bloß dieses eine Schlachtfeld, um seine Kräfte neu zu sammeln, eine neue Strategie zu entwerfen, um dann umso furchtbarer zurückzuschlagen.
Silver wusste allerdings noch nicht, auf wessen Seite er dann stehen würde.
*
Jules musste vor dem zu Bett gehen seiner Tochter alles erzählen, was er aus Büchern und Romanen über die Westernwelt kannte, zumindest das, was er davon noch in Erinnerung behalten hatte. Vor allem die Indianer und im Besonderen die Apachen schienen es der Kleinen angetan zu haben, dieses wilde, kriegerische und irgendwie geheimnisvolle Volk. Im 14. und 15. Jahrhundert waren sie von Norden kommend in die Gebiete der Pueblo Indianer vorgedrungen. Sie selbst nannten sich Enju, was schlicht Volk bedeutete und eigentlich bereits viel über ihre Sicht der Welt aussagte. Für die Zuni Indianer waren sie jedoch Apachus, also Feinde. Und diesen Namen behielten sie bis heute. Denn sie kamen als Eroberer, lebten vor allem vom Plündern und Rauben, terrorisierten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein Gebiet, das größer als Deutschland und Frankreich zusammen war. Und dabei zählten die Apachen nie mehr als 8’000 Seelen, besaßen kaum 3’000 Krieger.
Die spanischen Eroberer lernten die Apachen im sechzehnten Jahrhundert ebenso fürchten, wie später die Mexikaner und die US-Amerikaner. Denn es gab wohl niemals genügsamere, härtere und brutalere Kämpfer. Noch vor hundertfünfzig Jahren unterbrachen Apachen immer wieder die Handels- und Transportwege im Südwesten der USA, überfielen Ranches, Stationen der Postlinien und Minen, verbreiteten Angst und Schrecken unter den Menschen, ließen die Siedler aus dem Umland in die Städte fliehen, die von der Außenwelt abgeschnittenen Inseln glichen, die über Wochen ohne Verbindung nach Außen blieben.
Mexikanische wie amerikanische Städte begannen Prämien für jeden getöteten Apachen zu bezahlen, selbst für Kinder. Tucson bezahlte noch im Jahre 1870 für den Skalp eines Kriegers einhundert Dollar, was drei Monatslöhnen eines Cowboys entsprach, in heutiger Währung etwa sechstausend Euro. Der Skalp einer Frau war den christlichen Bürgern der Stadt noch fünfzig Dollar wert und für den Haarschopf eines Kindes bezahlten sie immerhin noch dreißig. Wie sehr mussten doch Hass und Angst zusammengewirkt haben, um solch barbarische Prämien einzuführen?
Auf beiden Seiten der mexikanisch-amerikanischen Grenze war ein Vernichtungskrieg gegen die Apachen in Gang gekommen, der sich jedoch über Jahrzehnte hinweg zog. Dabei fochten die zuvor so erfolgreichen Eroberer, die Apachen, einen verzweifelten und darum brutalen Kampf um ihre Freiheit und ihre Privilegien, später dann auch gegen ihr Aussterben. Auf der Gegenseite standen die neuen Eroberer, Mexikaner und Amerikaner. Sie betrachteten die Apachen nicht etwa als Menschen, sondern als eine Art von Raubtier, das sich mit Überfällen auf zivilisierte Menschen ernährte und darum ausgemerzt gehörte. Doch durfte man Diebstähle und Raubüberfälle tatsächlich so vergelten? Heute hätte man wohl andere, ethische Grundsätze angewandt.
Doch die Apachen waren geborene Guerillakämpfer und das trockene und weite Land half ihnen in ihrem Widerstand gegen die neue Zeit. Ihre Pferde waren genügsam, kamen mit einem Drittel des Wassers aus, das man den großen und schweren Pferden der Kavallerie zugestehen musste. Und wurde eine Kriegerhorde allzu sehr von Soldaten oder nach Beute gierenden Skalp Jägern bedrängt, dann töteten sie ihre Tiere und gingen sie zu Fuß noch tiefer in die Wüste hinein, an Orte, wo nur sie ein paar unterirdische Quellen kannten, die man zuerst ausgraben musste und die erst nach Stunden wenige Schluck Wasser spendeten, viel zu wenig für eine größere Gruppe von Verfolgern mit ihren Pferden.
Geronimo wurde zu einem ihrer wichtigsten Anführer. Mehr als zehn Jahre lang leistete er erfolgreichen Widerstand gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und gegen