Silver blickte das erste Mal von der Themse auf und kurz zum Bruder hinüber. Reginald schaute starr hinaus und so folgte Silver seinem Blick. Denn Reginald schaute nicht etwa auf den Fluss hinunter, auch nicht auf ein gegenüberliegendes Gebäude, sondern in die tiefhängenden Wolken, die sich in stürmischen Böen immer wieder zusammen bauschten und gleich wieder zerpflückt wurden, als ein ständiger Kampf der Elemente.
Eigentlich hatte Reginald Zeit seines Lebens schlussendlich stets das bekommen, was er wollte, ob im Streit und Kampf oder im Nachgeben und Verhandeln. Irgendwie konnte sein Bruder alle Widerstände überwinden. Als Junge unterlag er zwar noch oft in einer Auseinandersetzung, musste erst lernen, wann der Trotz und wann die List zum Ziel führte. Doch schon als Teenager beherrschte er die halbe Familie, spielte die Angestellten in der Küche gegen diejenigen im Hausdienst aus, zettelte gar einen Faustkampf zwischen dem Gärtnerlehrling und dem frisch eingestellten, jungen Chauffeur an. Über Wochen redete er dem Gärtnerlehrling ein, der Chauffeur würde durch seine rücksichtslose Fahrweise immer wieder ganze Kübel voller Kieselsteine über Rasen und Blumenrabatten verteilen. Dabei war es Reginald selbst, der in unbeobachteten Momenten mehrmals und von Hand die Steine in die Beete wischte. Der Gärtner in Ausbildung wurde jedoch immer wütender, bis es zum Ausbruch und der Schlägerei kam.
Silver hatte damals seinen älteren Bruder nach seinen Gründen für die Intrige gefragt und Reginald hatte gemeint, der Chauffeur hätte ihn vor ein paar Wochen verächtlich behandelt. Zu dieser Zeit lebten noch Wachhunde auf Bedfort Castle und einer von ihnen war an diesem Morgen aus seinem Zwinger entkommen und laut bellend auf den älteren Bruder zugesprungen. Der flüchtete sich laut um Hilfe schreiend ins Haus, während er vom Chauffeur beobachtet und ausgelacht wurde.
Nach dem Faustkampf fehlten dem jungen Fahrer zwei Zähne und der Gärtnerlehrling beklagte einen gebrochenen Mittelfinger. Oldman warf beide fristlos hinaus. Als er seinen Entscheid den beiden Söhnen beiläufig mitteilte, beobachtete Silver seinen Bruder ganz genau. Reginalds Gesicht zeigte keinerlei Regung, weder Befriedigung noch Schuldgefühle. Der Ältere der McPhearsen Brüder schien keinerlei Empfindung zu kennen. Hatte er seinen Groll gegen den jungen Fahrer bereits wieder vergessen? Oder hatte er damals schon seine eigenen Regeln aufgestellt? Ein verhöhnendes Lachen gegen zwei Zähne und den Verlust der Arbeitsstelle getauscht? War das der Anspruch seines Bruders an eine ausgleichende Gerechtigkeit?
»Und wie?«
Eine Ewigkeit schien seit dem letzten Satz von Reginald vergangen zu sein und die Frage von Silver klang deshalb kläglich und ohne jeden Zusammenhang, hing darum einsam im Sitzungsraum. Doch die Antwort des Älteren folgte ohne Zögern: »Das geht dich diesmal nichts an.«
Silver war trotzdem zufrieden, auch wenn er wusste, dass dieses Gefühl eigentlich das falsche war. Doch Reginald war schon immer der Bestimmende von ihnen beiden gewesen, derjenige, der sich auch ein paar Mal großzügig den Problemen des jüngeren Bruders angenommen hatte und sie für ihn auflöste oder klärte. Wie damals, als er mit einem der McIntier Brüder ohne richtigen Grund Streit bekam. Wenig später waren während des Sportunterrichts Hose, Socken und Schuhe aus seiner Umkleidekabine verschwunden und Silver fand sie später auf dem Pausenplatz über die Büsche verteilt. Sein halbnacktes Zusammensuchen seiner Sachen wurde vom hämischen Gelächter des McIntier Anhangs begleitet und Silver fühlte sich entehrt. Reginald sorgte damals nicht nur für die Entlarvung des Missetäters Freddy. Er suchte sich auch ein paar Kollegen zusammen, mit denen er dem verdammten Kerl auf dem Nachhauseweg auflauerte und ihn windelweich prügelte. Die Eltern von Freddy beklagten sich damals bei der Schulleitung, schalteten sogar die Polizei ein. Ein Constable hatte daraufhin ihre Klasse besucht und die Schüler über den Vorfall befragt. Alle hatten geschwiegen, auch diejenigen, die etwas wussten. Und selbst Freddy blieb stumm, verweigerte jede Aussage. So tief war ihm der Schrecken ob der erhaltenen Schläge in die Knochen gefahren.
Dass sich Reginald persönlich um Alioth kümmern wollte und sein Bruder nicht ihn damit beauftragte, konnte wohl nur eines bedeuten. Sein Bruder wollte ihm nicht sämtliche Drecksarbeit aufbürden, nicht so wie ihr Vater seinem jüngeren Bruder Rupert. Silver verspürte ein warmes Gefühl in seiner Brust.
Indianer
Die V7 Ranch in Raton bot neben Jagderlebnissen auch Ausflüge zu Pferd an. Sie wurden mit dem Eigentümer rasch einig und zogen schon bald auf ihren Gäulen auf Seitenstraßen durch das ruhige, verkehrsarme Städtchen. Chufu hatte irgendwo im Internet die Beschreibung des Weges zum ursprünglichen Passaufstieg gefunden und so führte er zusammen mit Mei ihren kleinen Zug an. Nach einer halben Stunde Wegstrecke verließen sie die letzten Häuser des Ortes, stiegen die schlängelnde Straße immer höher hinauf, die sie zum Old Raton Pass bringen sollte. Bereits nach wenigen Kehren hatten sie eine ansehnliche Höhe erreicht, konnten die verschiedenen Taleinschnitte erkennen, blickten hinüber zur Interstate 25, die sich rund zwei Meilen östlich der alten Passstraße durch die Berge gepflügt hatte, sahen auch das Bahntrasse, das denselben Sattel wie die Schnellstraße benutzte. Doch wenig später verloren sie beide Verbindungslinien nach Colorado aus den Augen, gerieten immer tiefer hinein in eine noch wilde Bergwelt, die selten von Fahrzeugen besucht wurde. Längst war die geteerte Straße zum breiten Naturweg geworden, zu einer Strecke für Four Wheel Drives und High Clearance Wagen. Die Schotterstraße blieb recht breit und so konnten sie die meiste Zeit über gemütlich nebeneinander reiten und miteinander plaudern.
Jules lenkte seinen Gaul jedoch immer wieder mal an den linken Rand der Straße, suchte den Hang neben und unter ihnen nach Hinweisen auf das ursprüngliche Trasse ab, fand mögliche Spuren eines noch älteren Zugangs zur Passhöhe. Er stellte sich auch die Postkutschen und Frachtwagen vor, die sich noch vor hundert Jahren mühsam jede Kehre hatten erkämpfen müssen. Volle sieben Tag hatte damals eine Überquerung des Raton Pass gedauert und dies stets im Bewusstsein einer irgendwo möglicherweise lauernden, tödlichen Gefahr, die auf dieser Strecke jederzeit Opfer fordern konnte.
Was waren das wohl für Männer und Frauen gewesen, die ihr Leben riskierten, als Angestellte von Postunternehmen oder Transportdienstleistern, als Auswanderer und Siedler, Goldsucher und Glücksjäger? Waren die Menschen damals abgestumpfter gegenüber allen Gefahren gewesen? Hatten sie das Leben selbst als eine so große Bedrohung angesehen, dass sie keine Furcht vor dem eigenen Tod verspürten und sich darum auch allen Gefahren mutig stellen konnten? Oder war der Lebenskampf in diesem damals noch so wilden Land dermaßen hart, dass bloß fatalistisch gesinnte Menschen überhaupt bis hierher gelangten?
Selbstverständlich war Jules die Verklärung des sogenannten Wilden Westens vollauf bewusst. Um 1870 herum war beispielsweise jeder dritte Cowboy in Texas ein Afro-Amerikaner und jeder zweite mexikanischer Abstammung. Denn der Job eines Kuhjungen war körperlich sehr hart und gleichzeitig schlecht bezahlt, so dass ihn nur Menschen ausübten, die sonst kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt besaßen. Schöne Western-Romantik, wenn man wegen drohendem Hunger oder fehlendem Dach über dem Kopf auf einer einsamen Ranch in den Hügeln versauerte, wo man über Wochen und Monate hinweg niemand anderen sah, außer die Arbeitskollegen und die Besitzerfamilie, wo man nebst Verpflegung, Unterkunft und Weidekleidung vielleicht noch dreihundert Dollar pro Jahr ausbezahlt erhielt und dies für vierzehn Stunden harter Arbeit sieben Tage die Woche.
Doch auch andere, gute Gedanken überkamen den Schweizer.
Erst auf dem Rücken eines Pferdes spürte man die Weite dieses Landes so richtig, empfand man den endlosen Himmel über sich als echte Freiheit, fühlte auch die wohltuende Langsamkeit. Im modernen PKW raste man an allem vorbei, legte in zwanzig Minuten so viele Meilen zurück, wie man früher an einem ganzen Tag vorwärtskam, startete man am Morgen in Dallas, um am Nachmittag in Amarillo einzutreffen, eine Wegstrecke, für die ein Frachtwagenzug vor hundertfünfzig Jahren volle drei Wochen unterwegs gewesen war.
Die Langsamkeit der Pferde, Maultiere und Ochsen war im Grunde genommen Lebensqualität pur, ein physikalisch erzwungenes Herunterfahren jeglicher Hektik. Dies galt auch im modernen Leben. Entschleunigung nannte man das wohltuende Phänomen