Sie redete langsam und bedächtig. So, als sähe sie mit jedem Satz, den sie sprach, noch einmal die dazugehörenden Bilder. “Doch hier habe ich weder das große Glück gefunden, noch den Reichtum, den ich mir damals, als junge Frau, erträumt habe. Im Gegenteil, das Schicksal hat es nie besonders gut mit mir gemeint. Jahrelang habe ich schwer gearbeitet, zwei Ehen sind gescheitert, Krankheiten und Fehlgeburten habe ich überstehen müssen.” Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach. “Und als ich schließlich doch noch den Mann gefunden habe, mit dem ich hätte glücklich werden können, überlebten wir mit knapper Not einen schweren Verkehrsunfall. Vierzehn Tage nach unserer Hochzeit. Seither sitzt mein Mann im Rollstuhl. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wir wären damals beide gestorben.”
“Das darfst du nicht sagen. Wichtig ist doch, daß ihr einander noch habt.”
“Ja, vielleicht hast du recht. Im Augenblick bedrückt es mich, daß ich hier bin und ihn allein lassen mußte. Während dieser Zeit müssen sich fremde Menschen um ihn kümmern, das tut mir weh."
“Was war denn der Grund dafür, daß du hier gelandet bist? Ich meine, was ist mit deinem Herzen passiert? Hattest du einen Herzinfarkt?"
“Eine Bypass-Operation, aber der Arzt hatte mich vor einem Herzinfarkt gewarnt.”
“Da kannst du doch froh sein, daß alles gutgegangen ist. In ein paar Wochen bist du wieder ganz in Ordnung. Dann hat dich dein Mann wieder, und du kannst dich wieder selbst um ihn kümmern. Du darfst nur nicht denselben Fehler ein zweites Mal machen. In Zukunft solltest du alles ein bißchen ruhiger angehen.”
Sie nickte. “Das weiß ich, aber das ist leichter gesagt, als getan.”
Zum Mittagessen gab es Fisch, - kein Wunder, es war Freitag. Der Duft kam ihnen schon entgegen, als sie die Treppe zum Speisesaal hinaufstiegen. Mit dem Essen im Waldhof war Tina vollauf zufrieden, - wobei zu erwähnen wäre, daß sie diesbezüglich niemals wählerisch war und fast alles mochte, was man ihr vorsetzte. Das konnte zwar sehr praktisch sein, führte aber auch manchmal dazu, daß sie mehr aß, als gut für sie war. Vor allem, wenn sie anderen dabei behilflich sein wollte, ihren Teller leerzuräumen. Das war zu Hause so, wenn Lissy partout ihr Gemüse nicht mehr essen mochte, und das zeichnete sich inzwischen auch schon am Tisch Nummer 5 in der Waldhof-Klinik ab. Obwohl der Ernährungsberater, ein Mann in weißem Kittel, der allgemein nur der
Sheriff
genannt wurde, zu jeder Mahlzeit durch die Tischreihen schlich und aufpaßte, daß jeder nur das aß, was für ihn vorgesehen war, war es unter den Patienten zur Gewohnheit geworden, das Essen untereinander auszutauschen. Und am Tisch Nummer 5 war es meistens Tina, die sich der ungeliebten Reste erbarmte. Röslein betete zwar vor jeder Mahlzeit und dankte dem Lieben Gott für Speis’ und Trank, doch auch für sie gab es das eine oder andere, das sie geschickt auf den Teller gegenüber bugsierte. Manfred, der Fuchs mit den schmalen lauernden Augen, der Tina zur Linken saß, mochte keinen Käse und tauschte ihn gern gegen die Blutwurst ein, während Wendelin, - eigentlich hieß er Wenzel, doch das erinnerte Tina zu sehr an einen Heiligen, und das schien er nun wirklich nicht zu sein, - Wendelin also schob ihr blitzschnell seine Nachtischration zu.
Nach dem Essen, sie saßen noch bei Mineralwasser und rotem Tee beieinander und erzählten sich, wie sie den Vormittag verbracht hatten, war von irgendwoher ein leises “Christina!” zu hören. Sie hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, daß man sie hier so nannte. Dennoch horchte sie auf und schaute sich um. Es war der Beobachter, er hatte seinen Platz am Nebentisch. Bisher war ihr das noch gar nicht aufgefallen, weil er ihr den Rücken zuwandte.
“Was machst du am Wochenende, Christina?”, fragte er mit einem Grinsen.
Aha, dachte sie, da hatte sie ihr Heft wohl doch nicht schnell genug aus seinem Blickfeld gezogen. Eigentlich gab es keinen Grund, ihm nicht zu antworten, abgesehen davon, daß es ihn nun wirklich nichts anging, was sie sich für das Wochenende vorgenommen hatte. Er würde doch nicht wirklich glauben, daß sie es zusammen mit ihm verbringen würde? Sie war schließlich nicht hier, um Männerbekanntschaften zu machen, sondern um sich zu erholen und fit und gesund zu werden. Natürlich hatte sie davon gehört, daß es Leute gab, die es in einer Reha darauf anlegten, ein Abenteuer zu erleben und fernab der Familie alle Grundsätze über Bord zu werfen, doch so eine war sie nicht, und das würde sie jeden merken lassen, der auch nur den leisesten Versuch unternahm, sich ihr zu nähern. Wenn der Beobachter auf so etwas aus war, dann, bitte schön, mußte er sich eine andere suchen.
“Das weiß ich noch nicht”, antwortete sie deshalb kurz angebunden. Als sie dann aber ein anzügliches Zwinkern von Reineke Fuchs auffing, ärgerte sie das so sehr, daß sie den Beobachter dafür büßen ließ.
“Vielleicht gehe ich spazieren”, sagte sie spitz, “aber nur wenn die Sonne nicht scheint, an einem Schatten bin ich nämlich ganz und gar nicht interessiert.”
Dann ließ ihn einfach links liegen, wandte sich stattdessen an Röslein und fragte sie: “Was hast du eigentlich am Wochenende vor? Hättest du nicht Lust, am Sonntag mit mir in die Stadt zu fahren? Oder bekommst du Besuch von deinem Mann?”
Röslein schüttelte traurig den Kopf. “Nein, er kann nicht kommen. Es ist zu schwierig mit dem Rollstuhl, wir haben niemanden, der ihn herbringen könnte.”
“Das tut mir leid", sagte Tina. "Mein Mann kommt an diesem Wochenende auch nicht, aber ich hoffe, daß es in der nächste Woche klappt. Oder wenigstens an meinem Geburtstag.”
Hinter vorgehaltener Hand, weil sie nicht wollte, daß es Zuhörer gab, flüsterte sie ihr zu: “Am Dienstag in einer Woche."
Röslein lächelte. “Der wievielte ist es denn?", fragte sie flüsternd zurück.
"Der dreiunddreißigste." Tina zog ein Gesicht. "Schon!"
Röslein lachte. "Oh mein Gott, du bist noch so jung.”
Tina seufzte tief. “Na, ich weiß ja nicht... Wenn man erst mal den Dreißigsten hinter sich hat.."
Später versuchte sie noch einmal, Röslein für einen sonntäglichen Stadtbummel zu gewinnen, weil sie fürchtete, allein könnte es ihr keinen rechten Spaß machen. “Komm doch mit", bat sie, "wir könnten uns einen schönen Nachmittag machen...”
Unschlüssig hob die Gefragte die Schultern. “Was sollen wir denn dort unten, wenn die Geschäfte geschlossen sind?”
Tina lachte. “Was wir dort sollen? Na hör mal! - Durch die Straßen schlendern, uns die Schaufenster ansehen. Es soll dort sehr schöne und exklusive Läden geben. Und danach bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Käsekuchen am Fenster eines hübschen Cafés sitzen und den vorüberflanierenden Damen zusehen...”
Nun mußte auch Röslein lachen. “Ausgerechnet Käsekuchen?”
Tina winkte ab. “Von mir aus auch Erdbeertorte mit Sahne, oder Schwarzwälder-Kirsch. Was immer du willst. Irgendetwas Gutes eben. Ich persönlich schwärme nun mal für Käsekuchen. In allen Variationen. Dafür lasse ich die raffinierteste Torte stehen.”
Röslein seufzte tief. “Vielleicht hast du recht, es würde nichts schaden, wenn ich mal ein bißchen auf andere Gedanken käme. - Na gut, ich werde mitkommen."
Abends rief Volkers Mutter an. Bevor sie fragte, wie es der Patientin ging, mußte sie erst einmal los werden, wie sehr sie sich über Lissy geärgert hatte. “Sie ist ein so störrisches Kind, Tina”, beschwerte sie sich. “Ihr habt sie einfach viel zu sehr verwöhnt.”
“Aber Mama, sie ist nur einfach lebhafter, als Steffi. Sie hat ihren eigenen Kopf.”
Und dann kam der Satz, den sie schon tausendmal gehört hatte: “Von Volker hat sie das nicht, der war immer ein ruhiges und liebes Kind.”
“Ja, ich weiß, Mama. Aber Kinder sind nun mal verschieden.” Und um das Thema zu beenden und der Schwiegermutter einen kleinen Seitenhieb zu verpassen,